Dienstag, 15. Juni 2021
Buchempfehlungen: China, Gegenwartskunst
Weiterhin bin ich etwas zaghaft öffentlich unterwegs. Um aber endlich wieder einmal etwas zu posten, stelle ich hier den Teil meiner Lockdown-Lektüre vor, der sich mit Gegenwartskunst in China beschäftigt. Es handelt sich um deutsch- oder englischsprachige Werke und um Übersetzungen. Dazu streife ich den einen oder anderen Randbereich. Die Reihenfolge ist alphabetisch nach Autor:innen geordnet, unterteilt in zunächst die Sachbücher und unten zusätzlich ein paar Romane.

Diese Liste ist natürlich längst nicht als erschöpfend, sondern als (relativ oder immer noch) aktuelle Auswahl zu begreifen.


Sachbücher: Kunst in China



Cheek, Timothy (2015): The Intellectual in Modern Chinese History. Cambridge: Cambridge UP.

Dem Alphabet folgend, beginnt diese Liste mit einem der Randbereiche für die Gegenwartskunst in China, mit den chronologisch beschriebenen Diskursen der Intellektuellen von 1895 bis 2015, von der Niederlage im Sino-japanischen Krieg bis zum Aufschwung im Zuge der Olympischen Spiele 2008 und ihren Nachklängen. Cheeks Inhaltsverzeichnis ist sehr aussagekräftig, weshalb ich es hier wiedergebe. In Zwanzigjahresschritten sind stets ein Umbruch und ein Motto genannt, die sich auf die politische Situation beziehen. Cheek beginnt mit China in den 1910er Jahren: „Reform: making China fit the world“, die 1930er nennt er: „Revolution: awakening New China“, die 1950er: „Rejuvenation: organizing China“, die 1970er: „Revolutionary revival: overthrowing the lords of nation-building“, die 1990er: „Reviving reform: correcting revolutionary errors“ und endet mit den 2010er Jahren: „Rejuvenation: securing the Chinese Dream“. Die Darstellung folgt den wichtigsten Protagonisten, ihren Ideen und Begrifflichkeiten sowie ihren Ansätzen und Aktionen auf Grundlage der politischen Lage.

Für den Anschluss an diese Abhandlung möchte ich gerne auf Minzners unten empfohlenes Werk „End of an Era“ verweisen.




Cheng, François (2004 [1991]): Fülle und Leere. Die Sprache der chinesischen Malerei (Original: Vide et plein. Le langage pictural chinois). Berlin: Merve.

Chengs „Fülle und Leere“ ist hier, genauso wie Lis „Path of Beauty“ und Zhus „Philosophie der chinesischen Kunst“, als Ergänzung zum Verständnis der Gegenwartskunst aufgenommen.

Bei Cheng geht es um den bis heute wichtigen traditionellen Begriff der Leere im Verhältnis von Mensch und Universum als Theorie in der chinesischen Philosophie und als praktische Anwendung in der Malerei. Nach einer Einführung von der Tang- bis zur Qing-Dynastie werden das grundlegende Konzept der Leere und die grundlegenden Begriffe der traditionellen chinesischen Malerei vorgestellt. Mit anschaulichen Bildbeispielen werden die verschiedenen Pinselführungen genauso beschrieben wie Form und Volumen, Verhältnis und Proportion und die drei Perspektiven der Malerei. Es folgt eine Zusammenfassung der Fachbegriffe der verschiedenen Ebenen: „Pinsel-Tusche“, „Dunkel-Hell“, „Berg-Wasser“, „Mensch-Himmel“ und „Die fünfte Dimension“, also die Leerheit (S. 126–132). Das letzte Viertel des kleinformatigen, 180 Seiten umfassenden Buches ist beispielhaft der Malerei von Shi Tao 石涛 (ca. 1641– ca. 1707) aus Wuzhou, Guangxi gewidmet.




Gladston, Paul (2016): Deconstructing Contemporary Chinese Art: Selected Critical Writings and Conversations, 2007–2014. Berlin und Heidelberg: Springer.

Ganz witzig finde ich, dass diese Ausgabe das Format meines alten Diercke Weltatlas hat, leider fällt dieses Buch im Gegensatz zum Diercke schnell auseinander. Es handelt sich um eine Ausgabe der „Chinese Contemporary Art Series“, von 2015 bis heute, der China Academy of Fine Arts (CAFA) in Beijing, in der der Australier Paul Gladston die stellvertretende Chefredaktion innehat. Nach Gladstons „Contemporary Chinese Art: A Critical History“, London: Reaktion Books 2014, sowie etlichen anderen Büchern und Artikeln aus seiner Feder, handelt es sich hier um eine Zusammenstellung verschiedener seiner Schriften, Gespräche und Ausstellungsbeschreibungen zwischen 2007 und 2014 und basiert insbesondere auf seinem Aufenthalt in China 2005–2010. Dargestellt wird die chinesische und internationale Entwicklung der Gegenwartskunst in China. Dies geschieht etwa unter Aspekten der Modernität und Tradition, der kuratorischen Praxis und der internationalen Problematik der Deterritorialisierung von Identitätsausstellungen, der Avantgardekunst, der kulturellen Übersetzbarkeit und des intellektuellen Dünkels, des Kults um Ai Weiwei – sehr zu empfehlen.




Harris, Jonathan (2017): The Global Contemporary Art World. Hoboken, NJ: Wiley.

Der Brite Jonathan Harris müsste etwa Jahrgang 1960 sein, er versteht sich als Autor, Kritiker und Historiker mit dem Fokus auf moderne und Gegenwartskunst und war an verschiedenen Universitäten tätig, zuletzt leitete er die Birmingham School of Art der Birmingham City University. Seit über dreißig Jahren ist Harris schreibend und unterrichtend, wie er sagt: „weltweit“ unterwegs. Genaue Zeitangaben macht er nicht, aber da er von 2011–15 an der Winchester School of Art der University of Southampton tätig war, muss es in diesem Zeitraum gewesen sein, dass er deren Partnerprogramm mit der Dalian Polytechnic University begleitete und in dem Zuge in China war (vgl. S. 130–32).

Sein „Global Contemporary Art World“ versteht Harris als dritten Teil „in my trilogy exploring the character, history and meaning of art made in the 20th and 21st centuries“ (S. 5), nach „Globalization and Contemporary Art“ von 2011 und „The Utopian Globalists: Artists of Worldwide Revolution, 1919–2009“ von 2013 (vgl. S. 5–7). Ähnlich ambitioniert, wie das Gesamtunterfangen klingt, ist auch diese Abhandlung. Nach einer Einleitung bespricht er in sechs Kapiteln die fünf Kunstwelten von Hongkong, Südkorea, Indien, China und Palästina. Es folgt ein Fazit als Abschlusskapitel. In dem Kapitel über China (S. 127–154) geht er auf das Bildungssystem und den, wie er es nennt, „Contemporary Chinese Art Marketed for Global Consumption“ ein. Stets ist er bemüht, die Hintergründe aufzuzeigen. Seine Vermittlung springt von einem zum anderen Großbereich und bleibt recht oberflächlich. Nicht ganz sicher bin ich mir, ob er die Verwendung chinesischer Namen einfach missversteht oder tatsächlich Ai Weiwei durch die Benennung von „Weiwei“ als seinen Buddy ansieht. Beides würde ich ihm nach der Lektüre zutrauen. Das Kapitel über Hongkong (S. 35–64) beschäftigt sich insbesondere mit dem Kunstmarkt und geht im Zuge des M+ Museums auch auf Privatmuseen vor allem in Shanghai ein (S. 48–50). Dieses Buch kann nur unter Vorbehalt empfohlen werden, ist aber als subjektive Einschätzung des Autors durchaus interessant. Sympathisch bleibt, dass Harris Utopien nachzujagen scheint.




Koch, Franziska (2016): Die „chinesische Avantgarde“ und das Dispositiv der Ausstellung. Konstruktionen chinesischer Gegenwartskunst im Spannungsfeld der Globalisierung. Bielefeld: transcript.

Dieses Buch umfasst 742 Seiten, es ist größer als die Standardgröße bei Transcript und recht eng bedruckt. Es handelt sich um die kunsthistorische Dissertation von Franziska Koch, die sie 2012 im Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg abgegeben hat. Es gab eine Druckkostenförderung, aber ich bin immer wieder begeistert, was für Nischenprodukte beim Transcript Verlag zu finden sind. Die ebenfalls dort publizierte Dissertation von Meng Schmidt-Yin (2019): „Private Museen für Gegenwartskunst in China: Museumsentwicklung in der chinesischen Kultur- und Gesellschaftstransformation“ kann man sich leider getrost schenken. Doch Kochs „Dispositiv der Ausstellung“ ist eine echte Perle.

Es handelt sich um eine Untersuchung von zwanzig Großausstellung zur chinesischen Gegenwartskunst von 1982 bis 2014, die außerhalb von China im Westen stattgefunden haben. Sie stellt die jeweiligen, wie sie sie nennt, Agenten vor, ihre Institutionen und Diskurse und setzt die Ausstellungen ins Verhältnis zur innerchinesischen Entwicklung. Sie macht kleine Fehler und ihr unterlaufen marginale Ungenauigkeiten, die man bemerkt, wenn man eine Sache selbst recherchiert hat. Aber im Großen und Ganzen ist dies ein fulminant gelungenes Nachschlagewerk relevanter Ausstellungen und ihrer, wie ich sie nenne, Akteure.




Kraus, Richard Curt (2004): The Party and the Arty in China: The New Politics of Culture. Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield.

Seit Erscheinen dieses Bandes 2004 hat sich natürlich einiges verändert. Dieses Buch bleibt dennoch relevant für die direkte Verbindung von Kunst und Politik und für das Verhältnis zwischen Künstler:innen und der Politik. Richard Kraus ist inzwischen emeritierter Professor der Politikwissenschaften für Asienstudien der University of Oregon. Sein Fokus waren die vergleichenden Politikwissenschaften, chinesische Politik und Kulturpolitik.

Kraus beschreibt die Kulturpolitik in China in ihrem Wandel von der Zeit unter Mao als Staatskunst über die Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping hin zur Marktwirtschaft. Der Boom des Kunstmarktes hatte 2005/06 seinen ersten Höhepunkt, der mit der Weltwirtschaftskrise 2008 nicht wirklich einbrach – zwar zogen sich die Sammler aus dem Westen zurück, aber dafür betraten die chinesischen Sammler das Feld, alsbald danach auch das internationale. 2004 war Kraus diesem Phänomen bereits auf der Spur, es muss in der Luft gelegen haben, die Nullerjahre, so auch Karen Smith in „Art Unlimited?“ (s. unten Schultheis et al., S. 81), „the first decade of the 21st century was all about economics“. Kraus geht von drei Thesen aus: erstens der intellektuellen Liberalisierung durch Kommerzialisierung, die gleichzeitig Künstler:innen vor wachsende Herausforderungen stellte; zweitens dem Wandel zu einem gemischten System privater und öffentlicher Förderung – auf öffentlicher Ebene steht leider immer noch einiges aus –, wobei sein Punkt eher ist, dass Wirtschaftsreformen ernsthafte politische Reformen bedeuteten; und – mittlerweile relativiert – die westliche Anerkennung der Reformen in China, die – wobei, weiterhin vorhanden – in der Westperspektive durch eine Kombination aus „ignorance, ideological barriers, and foreign policy rivalry“ (S. vii) verschleiert betrachtet werde. Außerdem geht er Fragen der Ideologie, Propaganda und vor allem der Zensur nach. Sein ganzes Kapitel zur Nacktheit mutet etwas überholt an, ist als Hintergrund aber sinnvoll. Es bleibt ein Werk, das gut gealtert ist und in dem man weiterhin einiges nachschlagen kann.




Leduc, Marie (2018): Dissidence: The Rise of Chinese Contemporary Art in the West. Cambridge, Mass.: MIT.

„Dissidence“, Opposition und Widerspruch klingen als Übersetzung eher harmlos, Dissens von Dissident:innen, es handelt sich um einen Begriff, mit dem man in Bezug auf restriktive Systeme stets Aufmerksamkeit erwecken möchte und der deshalb diesem Beigeschmack nicht entrinnen kann. Noch schlimmer ist Dissidentenkunst, aber über Ai Weiwei sind wir ja auch hierzulande nach seinem Berlinaufenthalt glücklicherweise hinweg. Nicht, dass ich gegen Konfrontation wäre, beileibe nicht. Sie findet in China nur anders statt, auch, aber nicht immer so direkt-plakativ, dass man sie im Westen sofort versteht, traditionell sowieso eher zwischen den Zeilen. Marie Leduc spricht dieses Thema nicht so platt abwertend wie ich an, aber auch ihr geht es um die Sehnsucht des Westens nach politischer Provokation, die nach dem Tian‘anmen Massaker 1989 begann und sich daraufhin verstärkte. Dafür steht der Verweis des Emblems auf dem Cover, das von der „China/Avant-Garde“-Ausstellung 1989 in Beijing stammt, im Februar, als man sich noch frei wähnte und die Avantgarde war. Ab Juni 1989 wurde der Westen aufmerksam, in China selbst zog man sich vermehrt zurück. Zunächst fragt Leduc nach dem Wert des Dissens in der Kunst und stellt Künstler:innen vor, die als Dissident:innen bekannt wurden. Sie untersucht die Ausstellung „Magiciens de la Terre“ von 1989 im Centre Pompidou, einer frühen Ausstellung gegen die eurozentrische Perspektive mit Arbeiten von hundert zeitgenössischen Künstler:innen aus aller Welt – nagut, immer noch eher Künstlern, aus China waren Huang Yongping, Gu Dexin und Yang Jiechang dabei. Mit dem Vermächtnis auch dieser drei als der Avantgarde hinterfragt sie weitere Themen wie Kunst und Revolution (als Dissens), freie Meinungsäußerung und Gegenwartskunst im Zuge der Globalisierung. Ich bin des Themas ein wenig müde, es bleibt leider weiterhin notwendig, dafür gibt es zu wenige – jetzt möchte ich Direktheit – Primärstimmen aus China.




Li Zehou 李泽厚 (1994 [1981]): The Path of Beauty: A Study of Chinese Aesthetics (Original: 美的历程). Übersetzung: Gong Lizeng. Hongkong und New York: Oxford UP.
Li Zehou (1992): Der Weg des Schönen: Wesen und Geschichte der chinesischen Kultur und Ästhetik. Übersetzung: Karl-Heinz Pohl und Gudrun Wacker. Freiburg im Breisgau u. a.: Herder.

Es gibt wirklich hässliche Coverdesigns. Li Zehou trifft keine Schuld, alle chinesischen Versionen sind um Meilen angenehmer, so auch die deutsche Ausgabe von 1992 und das englische Hardcover von 1989. Nur noch antiquarisch und einigermaßen erschwinglich blieb mir dieses ehemalige Bibliotheksexemplar. Kann das irgendjemand ernst meinen, selbst Mitte der 1990er Jahre, selbst als akademische Publikation, vor allem aber bei einem Buch über Ästhetik? Wenigstens existiert kein Hinweis auf das Grafikbüro. Es handelt sich um ein Standardwerk, das nicht wegen des Covers, sondern seines Inhalts gekauft werden sollte. Man muss sich nur überwinden, es aufzuklappen, dann verschwindet die hellbraune Verstörung von selbst.

Wie oben Chengs „Fülle und Leere“ und unten Zhus „Philosophie“ habe ich Lis „Path“ als Hintergrund hier aufgenommen, der dabei hilft, durch die Tradition die Gegenwart einzuordnen. Es existieren etliche wunderbare Abhandlungen zur traditionellen chinesischen Malerei, allgemeine Sammelbände über Kunst in China, häufig in gewaltigen Schritten durch die einzelnen Kaiserreiche schreitend. Diese drei exemplarischen Werke ermöglichen einen Einblick in die Gedankenwelt des alten China und dessen künstlerische Herangehensweisen, die chinesischen Künstler:innen auch heute noch präsent sind.

Chronologisch aufgebaut, beginnt diese Abhandlung mit dem mythologischen Zeitalter der „Drachen und Phönixe“, der Bronzezeit und Prä-Qin bis zur Einigung des Landes unter dem ersten Kaiser. Stets kunsthistorisch, also mit historischen Hintergründen und sozialen Veränderungen, begibt Li sich dann in die Zeit, die er die „Romantik der Chu und Han“ nennt. Durch die Epochen wandernd, sortiert er unterschiedliche Stilrichtungen, bespricht buddhistische Einflüsse, die Hochphase der Tang, die Vorstellung von Rhythmus und wie damit umgegangen, darüber hinausgegangen wird, wie es zur wichtigen Phase der Landschaftsmalerei der Song kam. Kunst und Literatur als Künste zusammen betrachtend, schließt Li mit den Haupttrends in der Ming- und Qing-Dynastie, er endet mit dem Ende des Kaiserreiches mit den Einflüssen der Umgangssprache und reflektiert über die Kunst als Handwerk. Die nur gut 230 Seiten liefern eine empfehlenswerte Grundlage zum Verständnis von Kontext und Entwicklung der Künste.




McIntyre, Sophie (2018): Imagining Taiwan. The Role of Art in Taiwan‘s Quest for Identity (1987–2010). Leiden und Boston: Brill.

Selbst war ich noch nie auf Taiwan und habe keine Ahnung von dem Land. Eine Übersetzung für das Palastmuseum in Taipei war bislang mein einziger direkter Kontakt mit der abtrünnigen Insel aus meiner Festlandsperspektive. Letztens meinte eine Freundin, sie würde gerne hin, wenn das Reisen denn wieder möglich wird, solange Taiwan, so ergänzte sie quasi prä-nostalgisch, noch Taiwan sei. Die Australierin Sophie McIntyre kennt Taiwan. Sie ist Kuratorin und Dozentin an der Queensland University of Technology. „Imagining Taiwan“ basiert auf ihrer Dissertation, die sie, eine Jahresangabe ist nicht zu finden, an der Australian National University eingereicht hat. Die vorliegende Abhandlung habe sich über zwanzig Jahren hinweg entwickelt. Es geht um die Kunst taiwanesischer Künstler:innen, um Museumspolitik, Identität und Anerkennung, anhand von Fallstudien um die Dekonstruktion, die Erzählbarkeit, um die Identitätsbildung und Entmythologisierung des Begriffs und Verständnisses von Nation. Weiter geht es um den Aufstieg Chinas und die Notwendigkeit der Neuorientierung Taiwans, hier werden etwa die Biennalen in Taipei und Venedig gegenübergestellt. Das Buch hat beinahe das Format eines Ausstellungskataloges, es ist reich bebildert und man merkt ihm die Kuratorin an.




Minzner, Carl (2018): End of an Era: How China‘s Authoritarian Revival is Undermining Its Rise. New York: Oxford UP.

Auch dieses Werk bietet einen Hintergrund, in diesem Fall einen politisch-gesellschaftlichen. Mit dem titelgebenden Ende einer Ära ist die unter Deng Xiaoping begonnene Reformära gemeint, und da jedem Ende ein Anfang innewohnt, bezieht sich dieser gleichzeitig auf den Beginn der Neuen Ära von Xi Jinping. Der amerikanische Juraprofessor Carl Minzner ist auf chinesisches Recht und Governance in China spezialisiert und charakterisiert hier die Kernfaktoren im Wandel von Ende und Anfang. Diese beinhalten politische Stabilität, ideologische Öffnung und rasantes Wirtschaftswachstum. An der Oberfläche erscheine es, dass Chinas Führung sich einer tiefgreifenden Reform seit den 1990ern verweigert habe. Während um das Land und weltweit Aufruhr herrsche, erscheine China als stabil und in stetigem Aufschwung. Doch seit den letzten dreißig Jahren habe ein erstarrtes politisches System die fest verwurzelten Interessen innerhalb der KPCh und die systematisch unterentwickelten Regierungsinstitutionen angetrieben. Wirtschaftliche Spaltungen haben sich genauso vermehrt wie soziale Unruhen und ideologische Polarisierung. Der Umgang damit sei ein progressives Ausschlachten institutioneller Normen und Praktiken von Seiten der Führungsebene. Die technokratische Führung weiche dem, was Minzner Blackbox-Säuberungen nennt, und das kollektive Regieren falle zurück auf eine Ein-Personen-Herrschaft. Die Reformära der Öffnungen sei beendet, China mache dicht. Minzner betrachtet dies unter den Aspekten Gesellschaft und Wirtschaft, Politik, Religion und Ideologie sowie in vergleichender Perspektive insbesondere zu Taiwan und Südkorea. China stehe an einem gefährlichen Wendepunkt. Am Ende seines Buches spielt Minzner mögliche Zukunftsszenarien durch, den Untergang des liberalen Traums, die Weiterführung autoritärer Führung, die Verstärkung des Nationalpopulismus, eine Wiederbelebung des dynastischen Zirkels, einen Zusammenbruch des Regimes und verschiedene Möglichkeiten weltweiten Umgangs damit.




Phillips, Christopher und Wu Hung (Hgg.) (2018): Life and Dreams: Contemporary Chinese Photography and Media Art. New York und Göttingen: The Walther Collection und Steidl.

Vor mir liegt ein sehr schöner, dicker Bildband mit einer Zusammenstellung von knapp fünfzig Fotograf:innen. Es handelt sich insbesondere um bekannte Namen wie Cang Xin, Cao Fei, Hong Hao, Rong Rong, Song Dong, Sun Xun, Wang Gongxin, Yang Fudong, Zhang Dali, Zhang Peili, Zhou Tiehai, Zhuang Hui und vielen mehr. Jede/r Fotograf:in erhält meist drei, mal eins, mal fünf Bilder Platz, die Titel finden sich gesondert am Ende, wodurch keine Ablenkung von den Bildern entsteht. Wie es sich gehört, finden sich ebenfalls am Ende die Biografien der vorgestellten Künstler:innen. Ergänzt wird dieser Band mit einer Reihe von Essays, etwa von Wu Hung mit seinem Ruinenansatz, Rong Rong zur Avantgarde-Fotografie, Karen Smith über Aufklärung durch die Linse, Lu Yang zu neuen Medien und anderen. Es sind keine neuen Positionen zu erwarten, aber ein guter Überblick des Bekannten.




Pollack, Barbara (2018): Brand New Art from China: A Generation on the Rise. London und New York: I.B. Tauris.

Barbara Pollack, Journalistin (New York Times, ARTnews), Kunstkritikerin und Kuratorin (in China etwa im Yuz Museum und im Long Museum), schreibt neben anderen Themen seit gut fünfzehn Jahren über die Kunstszene in China. So verfasst sie seit Mitte der 2000er Artikel über Ai Weiwei – weshalb vermutlich ein Zitat von ihm ihr „Brand New Art“-Cover ziert. Davon sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen. Mit teils etwas rudimentären, aber anschaulichen Einschätzungen zur kulturellen, politischen und gelegentlich historischen Lage, vor allem aber mit vielen Beispielen von Künstler:innen ab der 1980-Generation basiert Pollacks Buch auf Gesprächen mit den Akteur:innen der Szene. Die thematische Unterteilung ist grob chronologisch und beschäftigt sich etwa mit Chineseness, Abstraktion, Post-Truth und Post-Internet Kunst und endet in New York. Ai kommt auch vor, der Fokus richtet sich aber auf die Generation von Cao Fei und jünger. Pollacks Darstellung bietet eine kurzweilige Momentaufnahme insbesondere der Metropolkunst in China der 2010er Jahre.




Schultheis, Franz, Erwin Single, Raphaela Köfeler und Thomas Mazzurana (2016): Art Unlimited? Dynamics and Paradoxes of a Globalizing Art World. Bielefeld: transcript.

Man ist doch immer wieder überrascht, wie viele Leute ohne jegliches Vorwissen in ein fremdes Land gehen, sich dort ein paar Monate oder ein Jahr aufhalten und dann ein Buch darüber schreiben. Häufig erschauern einen die getroffenen Aussagen, genauso häufig ist man erstaunt, wie viele der relevanten Kontakte ausfindig gemacht wurden. Vermutlich ist die Szene wirklich so klein, die leichte oder schwierige Zugänglichkeit mag eine Charakterfrage sein – oder berufsbedingt.

Die Autoren dieses Bandes sind alle Soziologen, die sich offensichtlich erstmals mit China beschäftigen. Es handelt sich um eine Sammlung von Interviews mit Kurator:innen, Galerist:innen, Sammler:innen und ähnlichen Akteuren, die 2013/14 im Zuge eines Studienprojektes der Universität St. Gallen geführt wurden. Es ist ganz lustig, wie immer wieder ähnliche Fragen gestellt werden. Offensichtlich sind die Autor:innen die gesamte Zeit dabei, das Phänomen zu verkraften, dass chinesische Sammler:innen, zumindest wenn sie gerade mit dem Sammeln beginnen, sich zunächst über die Auktionshäuser – und nicht wie im Westen primär über Galerien – dem Markt nähern. Auch sonst drehen sich viele Fragen um das Marktverständnis. Die Autor:innen scheinen ihren Hauptzugang über die Art Basel in Hongkong erhalten zu haben und von dort losgezogen zu sein. Lesenswert sind besonders die Interviews mit Karen Smith (damals Beijing, heute Xi‘an, vermutlich bald Shanghai), Robin Peckham (damals Hongkong), Colin Chinnery (Beijing) und Tobias Berger (damals Hongkong). Vor allem Meg Maggio (Beijing) und Gu Ling (damals Shanghai) setzen einiges an Westlerperspektive der Autor:innen zurecht, was sich ganz amüsant liest.

Um die bei Kraus oben bereits zitierte Stelle von Karen Smith aufzugreifen, hier ihre sehr schön prägnante Einordnung der jeweiligen Dekaden (S. 81): „The 80s was pervaded by a kind of freedom; the 1990s was very political. Suddenly, the first decade of the 21st century was all about economics. This second decade feels rather flat. Perhaps it is needed as a period to reflect and put everything in perspective. Out of that, some new, stronger contemporary cultural identity will emerge for the 2020s, which will be tied to what will happen in China as China‘s position in geopolitics becomes ever more clearly defined.“




Wang, Peggy (2020): The Future History of Contemporary Chinese Art. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Der Ansatz von Peggy Wang ist ganz interessant. Hier geht es um die international renommierten Künstler:innen der 1950er/1960er-Generation Zhang Xiaogang, Wang Guangyi, Sui Jianguo, Zhang Peili und Lin Tianmiao. Auch hier geht es (wie oben bei Leduc) zunächst, da auf Englisch und entsprechend hauptsächlich für ein westliches Publikum geschrieben, nicht um, sondern gegen die westliche Suche nach Sozial- und Politikkritik bei Dissidenten. Diese ist in den besprochenen Kunstwerken auch vorhanden, aber natürlich steckt viel mehr dahinter. Als „Zukunftsgeschichte“ bezeichnet Wang ihre Neuinterpretationen in Form, Bedeutung und Möglichkeiten der Werke für sich und in Bezug auf die Kunstgeschichte in China und global. Sie legt die häufigen Fehllesungen dar, auch der Künstler:innen selbst, etwa in Bezug auf den Westen. Außerdem geht es gelegentlich um die Einflüsse, die diese fünf Künstler:innen auf andere genommen haben.




Welland, Sasha Su-Ling (2018): Experimental Beijing: Gender and Globalization in Chinese Contemporary Art. Durham und London: Duke UP.

Als ethnografische Feldarbeit beschreibt Sasha Welland ihre Untersuchung, die sie unter der Prämisse der Kommerzialisierung besonders von experimenteller Kunst vorgenommen und seit und auf die Olympischen Spiele 2008 zugehend wahrgenommen hat. Entsprechend lässt sie Stimmen von Künstler:innen, Kurator:innen, von offizieller Seite und von Stadtplaner:innen zu Wort kommen. Diese tarieren die soziale Rolle von Kunst aus und beschäftigen sich mit dem Aufbau neuer Kulturinstitutionen. Welland vertritt die These, dass Genderthemen ein verändertes Bewusstsein der Kunstgeschichte in China herbeiführen würden, die Globalisierung scheint als Dialog gemeint. Klar, für China nicht aber doch recht gewagt? Da mir genderspezifische Themen in China bislang nur eher am Rande untergekommen waren, lese ich natürlich gerne mehr davon. Vor allem ihre Einordnung von Begriffen und besonderen Pop-up-Phänomenen finde ich ganz interessant.

Zu dieser Druckversion hat Welland ein kleines digitales Kompendium geschaffen.




Wu, Weiping und Piper Rae Gaubatz (2013): The Chinese City. London und New York: Routledge.

Hier geht es nicht um Kunst, sondern um Stadtentwicklung in China – einem äußerst wichtigen, da lebensessentiellen Thema der chinesischen Gegenwart und damit in der Gegenwartskunst und deshalb eine passende Ergänzung in dieser Liste. Obwohl diese Abhandlung bereits ein wenig älter ist und etwa die Abrisswucht unter Xi Jinping insbesondere von 2017 in Beijing noch nicht miterleben musste (s. als Beispiele aus Beijing hier, hier oder hier), bietet sie reichlich Material zum strukturellen Verständnis chinesischer Städteplanung. Wu und Gaubatz liefern fundierte Hintergründe, nicht nur, aber auch an historischem Kontext und geografischer Kulisse. Mit zahlreichen Statistiken, meist von 1949 bis 2009, beleuchten sie das Urbanisierungsphänomen, die Entwicklung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation, der Infrastruktur sowie der Land- und Hausreformen und -bedingungen. Sie hinterfragen den urbanen Lebensstandard unter zivilgesellschaftlichen Gesichtspunkten und die urbane Governance. Ich habe bereits die eher architektonische Sicht von Dieter Hassenpflug (2009): „Der urbane Code Chinas“, Basel und Berlin: Birkhäuser, mit Gewinn gelesen, es gibt auf diesem Gebiet natürlich zahlreiche Essays und für mich handelt es sich eher um ein Hobbythema, dennoch finde ich, dass Wu und Gaubatz hier ein bemerkenswertes Fundament bieten.




Xu Yong 徐勇 (2015): Negatives. Dortmund: Kettler.

Gerade jährte sich das Tian‘anmen Massaker am 4.6.2021 zum 32. Mal. Zum ersten Mal gab es dieses Jahr kein offenkundig öffentliches Mahnmal in Hongkong. Der Fotograf Xu Yong hatte 1989 etliche Filmrollen auf dem Platz des Himmlischen Friedens belichtet. Er ließ sie über zwanzig Jahre in den Tiefen seiner Schubladen ruhen. Auch für diese Publikation im Ausland von 2015 wählte er nicht den direkten Weg der Positiventwicklung, das Thema war und ist einfach noch viel zu heikel. Mit einer einfachen Einstellung lassen sich die Bilder auf dem Handy im Positiv betrachten, tatsächlich changieren aber die negative Fotoästhetik und der dadurch gewonnene Abstand auf ihrer ganz eigenen Skala von Schönheit und Grauen.




Zhu Zhirong 朱志荣 (2020 [2012, 1997]): Philosophie der chinesischen Kunst (Original: 中国艺术哲学). Übersetzung: Eva Lüdi Kong. Berlin: LIT.

Wie oben bereits geschrieben, habe ich diese Abhandlung genauso wie Chengs „Fülle und Leere“ und Lis „Path of Beauty“ mit aufgenommen, weil sich Gegenwarten durch Blicke auf Vergangenheiten und ihre Traditionen erhellen.

Man könnte sagen, dass es sich um die Neuauflage von Lis „Path of Beauty“ handelt. Hier erfolgt allerdings anstelle der chronologischen eine thematische Unterteilung. Diese ist sehr detailliert, was den großen Reiz des Buches ausmacht. Allein durch das ausschweifende Inhaltsverzeichnis erhält man einen guten Einblick in das Themenfeld der chinesischen Ästhetik und Gedankenwelt.

Die Einordnungen „zur energetischen Wirkung und geistigen Ausstrahlung“ seien von daoistischen und konfuzianischen Weltanschauungen durchdrungen, weshalb diese Abhandlung mit „Philosophie der chinesischen Kunst“ betitelt sei (S. i). Die Kunsttheorie des alten China wird mit ihren eigenen Kategorien dargestellt. Die fünf Kapitel („Das künstlerische Selbst“, „Kunst an sich“, „Besondere Eigenschaften“, „Geistiger Ausdruck“ und „Entwicklungsgeschichte“) sind in angenehme kleine Häppchen unterteilt. Nach der Herangehensweise, den schöpferischen Quellen, dem Umgang mit Ruhe, Erkennen und Vitalität, werden Bedeutung, Form, Struktur, Rhythmus, Bildgestalt, Resonanz und vieles mehr behandelt. Zhu geht auf das Verständnis von Zeit und Raum, Innen- und Außenwelt, Subjekt und Objekt ein, und es folgen immer wieder Abschnitte zu den grundlegenden Eigenschaften. Die zahlreichen Zitate der Dichter und Denker werden stets in Kontext gesetzt und bilden mit der poetischen Denkweise der Dichtkunst die Basis zu den Erklärungen und Einordnungen. Die Begriffe, Personen und Werke sind durchweg auch auf Chinesisch wiedergegeben, Eva Lüdi Kong lebe hoch. Leider muss dieses Buch ganz ohne Abbildungen auskommen.


Romane aus und über China

Ich behaupte immer, nie Krimis zu lesen, und auch Scifis machen bei mir normalerweise keine 4/5-Romanration aus. Hier gibt es von mir einen Krimi und vier Sciencefiction-Romane, alle fünf taugen genauso wunderbar als Lockdown- wie als sommerliche Urlaubslektüre.




Dath, Dietmar (2019): Neptunation. Frankfurt a. M.: Fischer Tor.

In diesem Scifi bricht ein deutsch-chinesisches Rettungsteam dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges auf, um dem Signal einer damals von der Sowjetunion und der DDR entsendeten Mission nachzugehen.

Neben der marxistischen Grundeinstellung hat mich besonders gefreut, dass der Beijinger Künstler Wang Guangle hier einen kurzen Auftritt hat, S. 290f. Es geht bei der „schwebende[n], konvex elliptische[n] Form aus weißer Farbe“ um Wangs Arbeit, die er 2011 in der Beijing Commune im 798 ausgestellt hat (s. hier). Einerseits soll die Arbeit nicht interpretiert werden, „also bitte keine Kunstvorträge jetzt von Cordula, dass das irgendwie das Unbewusste der Macht oder die Dialektik der Arbeitsteilung oder so was darstellt“, andererseits erinnere diese Arbeit „uns nicht an das, was wir sind, sondern lässt uns vergessen, wo wir sind: im Weltraum, wo es nicht nur keine Kunst gibt, sondern nicht mal was zu essen“. Den einen oder anderen Dath kann man sich unbedingt gelegentlich gönnen.

Passenderweise lief kürzlich ebenda wieder eine Soloshow von Wang: „Wang Guangle 王光乐: Waves 波浪“, in: Beijing Commune 北京公社, 15.4.–28.5.2021.




French, Paul (2012 [2011]): Midnight in Peking. The Murder That Haunted the Last Days of Old China. London: Penguin.

Der Brite Paul French lebte um 2010 zehn Jahre in Shanghai, spricht Chinesisch (das muss leider immer noch gesagt werden) und schreibt als Journalist und Schriftsteller über Gesellschaft und Geschichte in China, mit Fokus auf das Ende des Kaiserreichs und die Republikzeit. „Midnight in Peking“ ist eine Dokufiktion über den unaufgeklärten Mord an der jungen Britin Pamela Werner im Jahr 1937 im Gesandschaftsviertel von Beijing. Es geht um das Leben der damaligen Expats, um Gesandte, Händler und andere Lebenskünstler, in Konfrontation mit der chinesischen Polizei zu Beginn der japanischen Invasion vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Mit, so Frenchs Erzähler, bislang unbekannten Dokumenten wird der Mord gar aufgedeckt ? Wie auch in seinen anderen Büchern, scheint French den Duktus der damaligen Zeit glaubwürdig zu beherrschen. Es ist ein Genuss, ihm durch die Hutongs und die Stadtmauern entlang zu folgen.

Berichten zufolge (Forbes 2012, 澎湃 2019) wird gelegentlich über eine Verfilmung von „Midnight in Peking“ spekuliert – ich würde mich sehr darüber freuen.




Lao She 老舍 (1985 [1933]): Die Stadt der Katzen (Original: 猫城记). Übersetzung: Volker Klöpsch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Wer noch nichts von Lao She gelesen hat, dem sei besonders dieser Scifi empfohlen – oder auch Gesellschaftsroman, darüber streiten sich die Geister. Zumindest spielt er auf einem fernen Planeten mit Katzen als Bewohnern. Das Gesellschaftsbild ist so wunderbar auf Lao Shes Zeit übertragbar wie auf die heutige, aber das soll bei Scifis ja gelegentlich auch der Fall sein.




Liu, Cixin 刘慈欣 (2017 [2006]): Die drei Sonnen (Original: 三体). Übersetzung: Martina Hasse. München: Heyne.
Teil 1 der Trilogie.
Teil 2: Der dunkle Wald (2018 [Original: 黑暗森林, 2008]), Übersetzung: Karin Betz.
Teil 3: Jenseits der Zeit (2019 [Original: 死神永生, 2010]), Übersetzung: Karin Betz.

Liu Cixins Trilogie braucht kaum noch eine Vorstellung, so allgemein bekannt ist dieser Scifi. Der dritte Teil erschien mit einer leider immer holpriger werdenden Übersetzung auf Deutsch bereits vor Corona, ich habe ihn damals natürlich sofort gelesen. Der erste Teil bleibt der stärkste und, wenn man Cliffhängern widerstehen kann, besonders lesenswert. Andererseits sollte dazu unbedingt der zweite Teil gelesen werden, denn wer möchte schon die Theorie des dunklen Waldes in seinem Leben missen? Wer auf sich aufmerksam macht, wird angegriffen, bevor er/sie angreifen kann – gibt es in Lius Version natürlich um Seiten länger und Bildlängen grandioser.

Als Einschätzung aus sehr deutscher Perspektive sei die Podcastfolge von Kapitel Eins: Die drei Sonnen von 2018 empfohlen.




Robinson, Kim Stanley (2019 [2018]): Roter Mond (Original: Red Moon). München: Heyne.

Leider sollten Scifis (zumindest die von Heyne publizierten?) wohl im Original gelesen werden, kein Wunder, dass das Genre nicht als Hochliteratur bekannt ist. Aber wenn man sich durch den gruseligen Anfang gebissen hat, weil man wieder zu faul war, sich technischen Erklärungen auf Englisch, geschweige denn auf Chinesisch zu stellen, dann hat man sich an die Schreibe gewöhnt und kann über Hunderte von Seiten in fremde Welten abtauchen.

2048 hat China hier die Vorherrschaft in der Kolonisierung des Mondes übernommen, weshalb er der Rote Mond genannt wird. Vielleicht haben Xi Jinpings Taikonauten Robinson gelesen, bevor sie Anfang 2019 auf der Schattenseite unseres Trabanten landeten – dieser Plan war wahrscheinlich bereits vorher gereift, aber auch verkündet? Und was haben sie dort wirklich angestellt? Bei Robinson befindet sich auf der Schattenseite des Mondes etwa ein unterirdisches, einem traditionellen chinesischen Landschaftsgemälde nachempfundenes Gelände. Die Chinesen wissen hier einfach nicht mehr, wohin mit ihrem Geld. Ein Mord auf dem Mond verbindet einen alten chinesischen Dichter, der inzwischen nur noch Videoblogs publiziert, eine chinesische Kadertochter und einen amerikanischen Techy miteinander. Natürlich geht es auch hier letztendlich um die Rettung der Welt.

„Inzwischen waren die Generationen, die bis zur ersten um Mao zurückreichten und zu der Zhou Enlai, Deng Xiaoping und die anderen Acht Unsterblichen gehört hatten, eher eine nominelle Angelegenheit. Die Folgegenerationen wurden lediglich anhand der jeweiligen Generalsekretäre, der Parteikongresse und des gesetzlichen Rücktrittsalters durchnummeriert. Unterm Strich kam dabei heraus, dass heutzutage alle zehn bis zwanzig Jahre eine neue Führungsgeneration antrat. Im Prinzip handelte es sich um einen ziemlich konstruierten Begriff, aber trotzdem wurde er oft verwendet und kombinierte die chinesische Vorliebe für nummerierte Listen mit einem allgemeineren menschlichen Bedürfnis nach einer Periodisierung der Geschichte, in dem hoffnungslosen Versuch, den menschlichen Geschicken einen Sinn abzuringen, indem man eine Art Feng Shui mit der Zeit betrieb.“ (S. 182f.)

Im Prinzip erwarte ich eher, dass Xi bis 2048 durchregiert, dann wäre er 95 Jahre alt, das halte ich nicht für abwegig. Und ist eine generative Nummerierung spezifisch chinesisch? Andrew Batson ist in „How plausible is the China in Kim Stanley Robinson‘s *Red Moon*?“, 2.3.2019, nicht überzeugt von Robinsons China-Vision, die er mehr als heutige Version mit etlichen Fehlern liest. Ich mochte das Buch trotzdem und fand es gerade wegen der Zustandsbeschreibungen von China aus amerikanischer Sicht interessant.

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Aktuell werde ich gut unterhalten von Dana Spiottas (2008 [2006]): „Eat the Document“, Köln: KiWi; ohne China-Bezug.


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