Mittwoch, 10. Mai 2023
München, Allgäu, Basel: Kunst und Natur im Frühjahr 2023
München

Wie immer das Beste zuerst: Im Museum Brandhorst läuft Nicole Eisenman: What Happened, 24.3.–10.9.2023. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die nach ihrer ersten Station von München aus nach London in die Whitechapel Gallery, 10.10.2023–14.1.2024, und abschließend nach Chicago ins Museum of Contemporary Art, 6.4.–1.9.2024, weiterziehen wird. Eine großartige Ausstellung, wer die Möglichkeit hat, sehe sie sich unbedingt an.

Die Treppe herunter geht es in den Hauptraum mit der Arbeit „Procession“ von 2019. Gut zehn Figuren bewegen sich, teils in Gruppen, alle schleppend, gestört, deformiert, gepeinigt, beinahe zombihaft, aber mit irgendeinem diffusen Ziel vor Augen in eine Richtung. Was für ein Gesellschaftsbild.


Überblick und Ausschnitt von: Procession. 2019.


Mensch im Zentrum der Menschheit | Man at the Center of Men. Bronze und Edelstahl | Bronze and stainless steel, 2019. Courtesy: Nicole Eisenman, Hauser & Wirth.


Drei Wanderer | Three Walkers. Mischtechnik | Mixed media, 2019. From the Collection of Stephanie and Timothy Ingrassia.


Ebd., Detail.

Hier kann man sich lange aufhalten und all die kleinen, wundervoll witzigen Details betrachten, von denen ich vermutlich nicht die Hälfte verstanden habe, doch aber das „Wir sind am Arsch“, wie es ein Begleittext beschreibt.


Detail von: Museumsstück con Gas | Museum Piece Con Gas. Gips, Wolle, Bienenwachs, Epoxidharz, Nebelmaschine, Mischtechnik | Plaster, wool, beeswax, epoxy resin, fog machine, mixed media, 2019. Courtesy: Nicole Eisenman, Hauser & Wirth.


Detail von: Kopf mit Dämon | Head with Demon. Bronze, Wasserbrunnen | Bronze, water fountain, 2018. Daskal Collection.


Ebd.

Im Übergang zu den chronologisch kuratierten kleinen Räumen, in denen es um Sexualität, die Erniedrigung des Künstler·innendaseins und immer um die gesellschaftlichen Störungen im Allgemeinen geht.


Der Triumph der Armut | The Triumph of Poverty. Öl auf Leinwand | Oil on canvas, 2019. From the Collection of Bobbi and Stephen Rosenthal, New York City.


Limonadenstand | Lemonade Stand. Acryl auf Leinwand | Acrylic on canvas, 1994. Whitney Museum of American Art, New York.


Inspiration. Öl auf Leinwand | Oil on canvas, 2004. Beth Rudin DeWoody.


Zurechtkommen | Coping. Öl auf Leinwand | Oil on canvas, 2008. Collection of Igor DaCosta and James Rondeau, courtesy Barbara Weiss Gallery.


Ohne Titel (Porträt eines Mannes, Wolfie) | Untitled (Portrait of a Man, Wolfie). Öl auf Holz | Oil on board, 2007. The Collection of Eleanor Heyman Propp.


Ohne Titel | Untitled. Öl auf Aluminiumguss | Oil on cast aluminum, 2017. Collection of Miyoung Lee and Neil Simpkins und div. Sammlungen.

Natürlich konnte ich am Ausstellungskatalog nicht vorbei:



Monika Bayer-Wermuth und Mark Godfrey (Hgg.) (2023): Nicole Eisenman: What Happened. London: Whitechapel Gallery.


Im Haus der Kunst läuft Trace: Formations of Likeness, Fotografie und Video aus The Walther Collection, 14.4.–23.7.2023. Hier nur zwei Einblicke aus der enormen Bandbreite:


Karl Blossfeldt (1865–1932): Urformen der Kunst | Art Forms in Nature. Eine von 120 Fotogravüren | One of 120 photogravures, 1928.


Xu Yong 徐勇: Dieses Gesicht | This Face. 183 chromogene Abzüge | 183 chromogenic prints, 2011.


Ebenfalls im Haus der Kunst, im häufig sehr wunderbar bespielten Foyer, läuft Hamid Zénati [1944–2022]: All-Over, 16.3.–23.7.2023.


Überblick und Ausschnitt.


Ausschnitt.


Detail an einer Wand.


In den Kunstarkaden läuft die Ausstellung Sterling Darling mit Werken von Chaeeun Lee, Eunju Hong, Jianling Zhang, Pierre-Yves Delannoy und Yuchu Gao, 26.4.–27.5.2023. Ein netter Kellerort für Studierende und Absolvent·innen der Kunstakademie, ich musste bei den Arbeiten an chinesische Performancevideos der 2000er Jahre denken.


In der Kunsthalle München, der Kulturstiftung der Hypo Vereinsbank, habe ich die Ausstellung Joaquín Sorolla: Spaniens Meister des Lichts, 4.3.–3.7.2016, noch eindrucksvoll in Erinnerung (unter dem Link auffindbar mit Strg.+f: Hypo). Gute Häuser besucht man gern erneut – und kann nur darauf zählen, dass die aktuelle Show eine Ausnahme ist. Flowers Forever: Blumen in Kunst und Kultur, 3.2.–27.8.2023, wirkt leider konzeptlos und willkürlich. Laut Anschlag werden Objekte „aus Kunst, Design, Mode und Naturwissenschaft“, in „Mythologie und Religion, in Kunst, Literatur oder Politik“, „vom Altertum bis heute“ gezeigt. Entsprechend scheint in den Räumen alles präsentiert, was sich mit einem Blümchen versehen auftreiben ließ. Eine thematische oder chronologische Anordnung wird nicht ersichtlich, der Großteil der Flächen ist überfrachtet, weshalb zahlreiche Werke einem möglichen Kontext entrissen nur mehr ins Kitschige kippen, und besonders das Spiegelkabinett ist augenscheinlich bloß für Instagram konzipiert. Dabei bietet sich das weite Feld der „Blumen“ für eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung an, etwa in Bezug auf Dekoration und damit traditionell als vermeintliches Frauenthema, noch müheloser ließe sich ein ökologischer Ansatz finden oder natürlich ein ästhetischer. Allein zwei kleine Werke durften in meine Kamera hinein:


Unbekannt (Ägypten) | Unknown (Egypt): Sonnengott auf der Lotusblüte | Sun God on a Lotus Flower. Bronze, Blei-Zinn-Bronze | Bronze, lead-tin-bronze, 600–350 v. Chr. | B.C. Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, München.


Ru Xiao Fan [茹小凡]: Ode an die Meditation [打坐颂], Jingdezhen (Provinz Jiangxi) | Ode to Meditation, Jingdezhen (Jiangxi Province). Seladon-Porzellan | Celadon porcelain, 2012. Leihgabe des Künstlers | Lent by the artist.


Die Blumelei war schnell vergessen, Nicole Eisenman wird lange bleiben, die Gespräche etwa über Witz im künstlerischen Ausdruck mäandern weiter in mir.


Allgäu

Bergauf, bergab gibt es hier Anfang Mai Nebel unter Fichten und in Bergschluchten, ab 1500 Metern Schnee, den wir auf Hosenböden herunterschlittern konnten, Haselnussschnaps an Gipfelkreuzen, Täler voller Löwenzahn, wundervolle Sonnentage, nach denen wir uns in den Illerstrom warfen.















Außerdem konnte ich das Repertoire meiner Fotoserie „Türen zu Wäldern“ erweiterten:










Basel

Im Rahmen von Open House Basel wurde Xu Tiantian, Gründerin des Beijinger Architekturbüros DnA_Design and Architecture, zur Gewinnerin des 8. Swiss Architectural Awards gekürt und gab einen Einblick in ihre Projekte.


Xu Tiantian 徐甜甜, DnA.


Im Kunstmuseum Basel laufen unter anderem folgende Sonderausstellungen:

Born in Ukraine: Die Kyjiwer Gemäldegalerie zu Gast, 6.12.2022–2.7.2023. Um ihre Werke zu schützen, hatte das Nationalmuseum in Kiew im Frühjahr 2022 einen Teil der eigenen Sammlung in Basel untergebracht, von denen hier knapp fünfzig gezeigt werden.


Oleksandr Tyschler (1898–1980): Machnowschtschyna (Huljajpole) | Makhnovshchyna (Huliaipole). Öl auf Leinwand | Oil on canvas, 1927. The Kyiv National Art Gallery.


Petro Ossovsky (1925–2015): Das Dorf Malatyna | Malatyna Village. Öl auf Leinwand | Oil on canvas, 1975. The Kyiv National Art Gallery.


Andrea Büttner: Der Kern der Verhältnisse, 22.4.–1.10.2023. Ausgangspunkt ist das Buch „Liber Vagatorum“, in dem, so der Begleittext, im 16. und 17. Jahrhundert „vor Bettlern und Landstreichern gewarnt“ wurde, „fortan wurden mittelalterliche Vorstellungen der Mildtätigkeit und Armenfürsorge zusehends von den Geboten der protestantischen Arbeitsethik verdrängt.“ Büttner reagiert auf die Bilder mit eigenen Holzschnitten – die mir leider entgangen sind, da wir hier auf dem Weg zu Shirley Jaffe nur kurz vorbeikamen.


Liber Vagatorum: Der betler orden (The Order of Beggars). Gebundene Ausgabe | Hardback edition, Nürnberg 1501. Öffentliche Bibliothek der Universität Basel.


Rembrandt van Rijn (1606–1669): Bettler und Bettlerin hinter einer Böschung | Beggar and Beggar Woman behind an Embarkment. Radierung, Faksimile | Etching, Facsimile, um 1630. Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv. X.1126, Schenkung Emilie Linder.


Shirley Jaffe [1923–2016]: Form als Experiment, 25.3.–30.7.2023. Jaffe lebte von 1949 bis zu ihrem Lebensende in Paris. Diese Retrospektive zeigt ihr jahrzehntelanges Schaffen im stetigen formalen Wandel. Insbesondere ihre abstrakt expressionistischen Arbeiten haben mir gefallen.

Interessant dazu ist unter anderem diese Information eines Begleittextes: „Etwa 300 Künstler:innen aus Amerika ziehen Ende der 1940er Jahre in die französische Metropole. Viele dieser ‚Amerikaner:innen in Paris‘ können von der G.I. Bill profitieren. Das Gesetz wird 1944 erlassen, um Kriegsveteran:innen finanziell zu unterstützen – auch bei einer Ausbildung im Ausland. Sie schreiben sich in den Kunstschulen der Stadt ein oder besuchen die Ateliers namhafter Künstler:innen. […] Shirley Jaffes Mann, Irving Jaffe, schreibt sich an der Sorbonne ein und kann das Leben des Paares in Paris dank der G.I. Bill finanzieren.“


Ohne Titel | Untitled | Sans titre. Öl auf Leinwand, 1958. Centre Pompidou, Musée national d‘art moderne, Paris. Schenkung 2020.


Ohne Titel | Untitled | Sans titre. Öl auf Leinwand, 1955. Centre Pompidou, Musée national d‘art moderne, Paris. Schenkung 2020.


Crazy Jane at Appomattox. Öl auf Leinwand, 1956. Courtesy Shirley Jaffe Estate und Galerie Nathalie Obadia, Paris und Brüssel.
Appomattox ist eine Stadt in Virginia.


Which in the World. Öl auf Leinwand, 1957. Centre Pompidou, Musée national d‘art moderne, Paris. Schenkung 2020.

Bei „Which in the World“ soll es sich dabei um eine Anspielung auf Renoirs „Le Déjeuner des canotiers“, 1880–81, handeln, hier abfotografiert von der kleinen Bildtafel:


Pierre-Auguste Renoir: Le Déjeuner des canotiers. 1880–81. The Phillips Collection, Washington DC, acquired 1923.

Ihre späteren Arbeiten in Riesenschritten:


Ohne Titel | Untitled | Sans titre. Öl auf Leinwand, 1955. Centre Pompidou, Musée national d‘art moderne, Paris. Schenkung 2020.


The Black Line. Öl auf Leinwand, 1975. Collection John Driscoll, Courtesy Tibor de Nagy Gallery, New York.


Hollywood. Öl auf Leinwand, 1980. Musée d‘Art Moderne de Paris, Ankauf in der Galerie Jean Fournier 1982.


(Links:) Cobra. Öl auf Leinwand, 1996. Fonds d‘art contemporain, Paris Collections.
(Rechts:) Traffic. Öl auf Leinwand, 2007. Privatsammlung, Paris.


Da in der Gegend, machte ich einen schnellen Abstecher nach Biel. Hier bleibe ich gern wieder einmal länger. Und beim nächsten Mal folge ich Katharinas Rat, mir ein Halbtax für den SBB zu kaufen, ein Monat kostet 120 Franken, ein Jahr 185, damit bezahlt man für alle Züge den halben Preis.


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Auf dieser Reise las ich (mit bestem Dank für die Empfehlung an Wei):



Stephen Greenblatt (2013 [2011]): Die Wende: Wie die Renaissance begann (Original: The Swerve: How the World Became Modern). Übersetzung: Klaus Binder. München: Pantheon (Siedler Verlag 2012).

Zentrum von Greenblatts Erzählung ist die nach tausend Jahren erfolgte Wiederentdeckung von Lukrez‘ „De rerum natura“ (hier übersetzt mit: Von der Natur; ca. aus den 50er Jahren v. Chr.) durch den italienischen Humanisten und Manuskriptjäger Poggio Bracciolini in einem süddeutschen Kloster im Jahre 1417. Noch mit den gottesfürchtigen Repressalien und dem „gedankenpolizeiliche[n] Arm“ (S. 263) der Inquisition im Nacken katapultierte dieser Text die westeuropäische Welt aus dem Mittelalter heraus in die Renaissance beziehungsweise, so Greenblatts These im englischen Original, in die Moderne. Denn Lukrez leugnete die Unsterblichkeit der Seele, lehnte die göttliche Vorsehung ab und behauptete, Lust sei das oberste Gut (S. 265). „Alles Seiende ist aus unsichtbaren Teilchen zusammengesetzt“, alles Dasein bestehe aus Atomen (s. die Zusammenfassung der Thesen S. 194–207). Um diese Kernaussage wird die Welt am Hof der römischen Päpste dargestellt, es geht um ihre Intrigen und Gedankenvorstellungen, ihr Verhältnis zu heidnischen Schriften, um das Leben in Klöstern, das Aufkommen von Bibliotheken, um private Büchersammler·innen, das Schrifttum vor Gutenberg im ewigen Kopieren, den Verlust so vieler Manuskripte. Immer wieder werden Bezüge in unsere Gegenwart hergestellt. Dieses Buch ist eine beeindruckende Fundgrube.

Lukrez‘ ganz besondere Lust gilt der Gemeinschaft und dem Austausch mit Freund·innen. Die Begegnungen in München, im Allgäu und in der Schweiz brachten mir wahrlich große Lust.


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