Montag, 7. November 2022
59. Biennale in Venedig 2022 | 2022年第59届威尼斯双年展
youjia, 10:25h
Hach, Venezia, es ist doch immer wieder schön, hier zu sein. Einen Groteskkopf für meinen Schreibtisch habe ich auch dieses Mal nicht auftreiben können, nicht einmal einen Knauf, aber ich gebe nicht auf.
„The Milk of Dreams“ ist ein Kinderbuchtitel der Surrealistin Leonora Carrington (1917–2011), unter dem sie zuerst in den 1950er Jahren auf ihren Hauswänden begonnen und diese dann in einem Notizbuch mit selbem Namen weitergeführt hatte und das, soweit ich es finde, 2013 posthum erschien. Auch wenn romanische Sprachen meist besser klingen, hört sich „Leche del sueño“ für mich nicht weniger anstößig an. Vielleicht ist das nur meine prüde Ader. Was es mit dem Titel auf sich hat, hatte ich mir vorher nicht angelesen und muss gestehen, zwar Carringtons feingliedrige, märchenhafte Zeichnungen auf der Ausstellung wahrgenommen, aber sie links liegengelassen zu haben. Als anrüchig habe ich sie nicht in Erinnerung, eher als zu lieblich und niedlich. Meint die Milch die nährende Muttermilch, die ich pervertiert habe? Überzeugt mich weiterhin nicht, aber möglicherweise kommt das noch in diesem Nachgang.
Cecilia Alemanis Kuration 2017 des italienischen Pavillons in Venedig, „Il mondo magic“, die magische Welt, habe ich nicht gesehen, auch ihre Performanceinszenierung auf der Art Basel 2019 habe ich leider verpasst, obwohl ich dort war. Alemanis Ausstellungen sind für mich also Neuland, aber offensichtlich scheinen sie fabelhafte, magische Welten zu faszinieren. Mythen finde ich prinzipiell spannend, wobei, und darauf pocht auch Christina unermüdlich, wenn ich das sage, „eine mythische Wahrnehmung der Wirklichkeit“, eine „Schlacht zwischen Gut und Böse“ schnell ins Verschwörungsmythische umkippen kann (hier nach Elena Racheva mit Blick auf Putins Russland im sehr empfehlenswerten Essayband „Testfall Ukraine“ von 2015, gruselig aktuell, S. 138). Fantasy ist eigentlich nicht so meins, allerdings liegen der sagen wir mal sichtbaren Realität abtrünnige Fabelwesen und -welten wohl seit ein paar Jahren im Trend, zumindest begegne ich ihnen mittlerweile regelmäßig in der Kunst – was ich dann doch wieder interessant finde. Entrückt man sich oder klappt sich wirklich etwas Neues, ein erneutes archaisches Bedürfnis in uns auf?
Wie die documenta 15 will die 59. Venedigbiennale uns andere Formen des Zusammenlebens und Möglichkeiten der Umgestaltung unserer Lebensmodelle auskundschaften lassen. Während der Ansatz auf der documenta sehr praktisch gemeint ist, geht es in Venedig etwas abstrakter um „otherworldly creatures, along with other figures of transformation, as companions on an imaginary journey through the metamorphoses of bodies and definitions of the human“ (Ausstellungskatalog „Short Guide“, im Folgenden AK: S. 43).
Es gehe um eine Vereinigung von Mensch, Tier und Mechanik, um die Fragen, was das Leben in der aktuellen Veränderung ausmache, wo unsere Verantwortlichkeiten lägen. Der Fokus sei auf das posthumane Verständnis von Körpern und ihre Wandelbarkeit gerichtet, auf ihre Bezüge untereinander, zur Umwelt, zur Technologie. Bei hybriden Scifi-Vorstellungen bin ich sofort an Bord, bei einer Neuordnung von Subjektivitäten, Hierarchien, Anatomien unbedingt (AK: 44), also gespannt auf künstlerische Visionen eines Endes des Anthropozentrismus (AK: 45).
Giardini: Zentralpavillon
Noch aber war ich nur vom Biennaletitel nicht überzeugt, strebte ansonsten aber unbefleckt und erwartungsfreudig ins Getümmel. Zunächst ging es ins Giardini und dort als erstes in den Zentralpavillon. Um es vorwegzunehmen, der hat mich im Gegensatz zur Corderie im Arsenale in seinen Bann gezogen. Wunderbare Positionen und besonders großartig die der endlich gewürdigten Surrealistinnen, die in einem Raum mit gelbem Teppich, der sich vom Boden über die Wänden bis an die Decke hochzog, ausgestellt wurden, leider aber nicht fotografiert werden durften. Präsentiert wurden von Cecilia Alemani insgesamt über zweihundert Künstler·innen aus knapp sechzig Ländern mit einer Mehrheit von Frauen, mit Werken der Gegenwart und unter anderem eben jener Surrealistinnen, die, als „transhistorischer Ansatz“ pro „Symbiose, Solidarität, Sisterhood“ (AK: 46), auf der Biennale in einer Art Zeitkapsel miteinander in Verbindung treten sollten (fun fact, mit Dank für den Hinweis an Herrn Friedrich: Zeitkapseln sind im Chinesischen 时间胶囊, Gummibeutel der Zeit, mit jiao als Kleber – wird Zeit damit dehnbar?).
Wie meist, halte ich mich auch hier an die Reihenfolge meines Rundgangs. Begrüßt wird man von Katharina Fritschs Elefanten, dazu Alemani: Unter Elefanten seien die Leittiere der Herde immer weiblich (AK: 26). So darf es gern sein.
Katharina Fritsch: Elefant | Elephant. Polyester, wood, paint, 1987.
Andra Ursuta: Phantom Mass. Lead crystal, 2021.
Gabrielle L‘Hirondelle Hill: Counterblaste. Pantyhose, tobacco, beer can tabs, wildflowers, thread, charms, 2021.
Mrinalini Mukherjee: (V. l. n. r.) Rudra. Hemp fibre, 1982.
Vanshree. Woven, dyed fibre, 1982.
Devi. Woven, dyed fibre, 1985.
Ebd.: Vanshree. Woven, dyed fibre, 1982.
Djuna Barnes: Ladies Almanack. Reprint from 1928, New York, Evanston, San Francisco and London: Harper & Row 1972.
Titel: „Ladies Almanack / showing their Signs and their tides; their Moons and their Changes; the Seasons as it is with them; their Eclipses and Equinoxes; as well as a full Record of diurnal and nocturnal Distempers / written and illustrated by a Lady of Fashion“.
Ebd.: Illustration, Paris: Edward W. Titus 1928.
Da mein Besuch im August stattfand: „August hath 31 days / Distempers / What they have in their Heads, Hearts, Stomachs, Pockets, Flaps, Tabs and Plackets, have one and all been some and severally commented on, by way of hint or harsh Harangue, praised, blamed, […?]“.
Unica Zürn: Untitled. Oil, ink, paper on board, 1967.
Ovartaci: Untitled. 2-dimensional life-seized dolls, gouache and crayon on canvas/ textile, n. d.
Ebd.
Paula Rego: Sit. Pastel on paper on aluminium, 1994.
Jana Euler: great white fear. Detail, 111 glazed ceramics on plinth, 2021.
Ebd.
Ebd.
Ulla Wiggen: Översättaren | The Translator. Acrylic on panel, 1967.
Shuang Li: Æther (Poor Objects). Filmstill, Video 18:26 min., 2021.
Christina Quarles: Don‘t Let It Bring Yew Down (It‘s Only Castles Burnin‘). Acrylic on canvas, 2021.
Hier am Ende, geht auch als Anfang:
Cosima von Bonin: What If They Bark 01-07. Glass reinforced plastic (GRP), wool babric, scarfs, steel base, ukulele, chains with four monoculars made of steel and glass, 2022.
Ebd.: Scallops (Glass Version). Epoxy resin, wood, lacquer, hemp rope, glittering garland, 2022.
Ebd.: Hermit Crab (Glass Version). Steel cement mixer, epoxy resin, rubber, 2022.
Giardini: Länderpavillons
Das Konzept von Länderpavillons auf einer Biennale könnte endlich überdacht werden, es handelt sich schließlich nicht um eine Image-Expo oder Verkaufsmesse, im Idealfall. Wurde eigentlich jemals getauscht, meinetwegen durch eine Tombola? Dann müsste sich zumindest Deutschland nicht jedes Mal an sich selbst abarbeiten. Gut, darüber können sich andere aufregen, ignorieren reicht mir hier. Aber auch die anderen waren mir zum Großteil zu lahm. Gefallen haben mir:
Belgien mit Francis Alÿs‘ weltweit gefilmten „Children‘s Games“:
La Roue. Filmstill, DR Congo, 2021.
Wahnsinn: „Over the city of Lubumbashi looms the mampala or slag heap of the Étoile du Congo cobalt mine, its lower slopes today sifted by the clandestine, lithium hunters who risk their lives to feed our global battery market. The film rests on dramatic contrasts – tiny bright figures against the expanse of darkness; a child who can barely see over the colossal tire he fights to push uphill. Then the adrenaline rush of rolling down inside it!“
Espejos. Filmstill, Mexico, 2013.
Geflasht: „Boys stampede through the shells of small geometric homes, fancy boxes falling to bits in a dry-grass wasteland like futuristic ruins. Each boy holds a piece of broken mirror and aims at the enemy with the light refracted by the sun. They can‘t resist making shooting noises though these burning bullets are flashes from millions of miles away. Once a player is blinded by the light, he slumps and dies.“
Imbu. Filmstill, CR Congo, 2021.
Großartig: „Mosquitoes‘ hearing is for the sole purpose of finding a mate. Individual males (more wingbeats per second, higher frequency) and females (slower, lower) adjust their flight tones until a pleasing harmony is achieved. These boys have found a pitch irresistible to one sex. Eros and Thanatos for the mosquitoes; for the boys, a small but satisfying cull of the horrible hordes.“
Spanien mit Ignasi Aballís „Corrección“, der den Pavillon von innen auf seiner Achse um ein paar Grad dreht, um ihn neu zu den beiden Nachbarn Belgien und den Niederlanden auszurichten:
Polen mit Małgorzata Mirga-Tas‘ „Re-Enchanting the World“:
Die USA mit Simone Leigh:
Japan zeigte die Gruppe Dumb Type. Ich kam über München nach Venedig und fand Arbeiten des Kollektivs dort besser umgesetzt im Haus der Kunst: Dumb Type, kuratiert von Damian Lentini, 6.5.–11.9.2022:
Memorandum Or Voyage. 2014.
Die Begeisterung einiger Stimmen vom koreanischen Pavillon kann ich nicht nachvollziehen. Für mich wirkte es wie eine Messevorstellung mit high-end aufpolierter Technikshow.
Die Schweiz hat mich verstört – das, was ich im Nachhinein über Ritualisierungen und Rhythmen lese, vermag mir die riesigen zerschlagenen und verkohlten, buddhaähnlichen Holzskulpturen nicht mit Leben zu erwecken. Es wirkte auf mich wie die Vernichtung oder Verbrennung von Kulturgütern, wovon ich gar kein Fan bin.
Arsenale: Corderie
Am folgenden Tag ging es ins Arsenale, zunächst in die Corderie, Artiglierie. Ich musste dreimal nachschlagen, ob dieser Ort wirklich von ein und derselben Person kuratiert wurde. Wurde er. Die Auswahl hier hat mich sehr verwundert, aber nicht auf die gute Art, wie Kunst einen stören und auf neue Gedanken bringen kann und möglichst soll. Sie rief eher Aversion hervor, ich muss leider gestehen, dass mein Durchschreiten zu einem Durchlaufen wurde und mich mehr und mehr anfraß. Was ich am Anfang noch ganz witzig fand, die schrillen Farben, die monströsen Formate, wurde mir schon bald zuwider. Nichts gegen Textil und als Statement auch nichts gegen Glitzer, aber Handarbeit ist das, was Frauen als Betätigung im Bauhaus usw. erlaubt war. Habe ich mich da hineingesteigert und übermäßig viele Stoffe gesehen, als wären das die Positionen von Frauen? Dann all die leidwimmernden Videos oder solche, die den Performancevideos aus China der Nullerjahre mit nackten Menschen, die zwischen Sehnsucht und Selbstzerstümmelung durch Wälder ziehen, ähneln oder es waren. Wobei doch beeindruckend ist, wie schmerzfrei hier mit geballtem Kitsch umgegangen wurde.
Bagriel Chaile: (Vorne) Rosario Liendro. Metal structure, adobe, bricks, 2022.
(Hinten) Pedro Chaile. Metal structure, adobe, bricks, 2022.
Myrlande Constant: Sirenes. Sequins, glass beads, silk tassels on canvas, 2020.
Ebd.: Rasanbleman soupe tout eskòt yo. Sequins, glass beads, silk on fabric, 2019.
Ebd.: Guede (Baron). Sequins, glass beads, silk tassels on cotton, 2020.
Rebecca Horn: Kiss of the Rhinoceros. Steel construction, aluminium, morots, electronic device, 1989.
Zhenya Machneva: Echo. Hand-woven tapestry, 2021.
Precious Okoyomon: To See the Earth before the End of the World. Div. material, 2022.
Arsenale: Länderpavillons
Darauf kommen weitere Länderpavillons im Arsenale, Giggiandre, Giardono delle Vergini. Besonders beeindruckt war ich vom italienischen Pavillon mit Gian Maria Tosattis „History of Night and Destiny of Comets“. Ich meine, man durfte fotografieren, aber ich war linsenunfähig. Hier betrat man über mehrere Räume und Stockwerke eine Fabrik vielleicht der 1950er Jahre, die irgendwie gerade verlassen wirkte, zumindest wie kurz vor oder im absehbaren Ende. Möglicherweise hatten deren Arbeiter·innen auch keine Nachtschicht mehr, weil das Gewerbe – eine Stofffabrik?, es gab einen Raum mit Nähmaschinen – unrentabel geworden war. Man befand sich hier in einem Dazwischen von etwas Hinterlassenem, das sich in Auflösung befindet und kurz vor dem Beginn von etwas Neuem steht, das aber noch nicht greifbar ist – bis man bemerkte, dass selbst alle Betonwände aufgemalt oder tapeziert waren. Das zerbrach die Illusion allerdings nicht, sondern machte die Atmosphäre noch zwielichtiger. Großartig.
Argentinien mit Mónica Hellers „The Importance of the Origin Will Be Imported by the Origin of the Substance“:
Türkei mit Füsun Onurs „Once upon a Time …“:
Lettland mit Skuja Bradens „Selling Water by the River“:
Slowenien mit Marko Jak?es „Without a Master“. So wenig man mich sonst mit fabelnder Fantasy an die Angel bekommt, hat mich diese Malerei doch in ihren Bann gezogen:
Let‘s Get Down to Work! 183x250cm, mixed media on canvas, 2016.
Blind Patriarch. 171x215cm, mixed media on fiberboard, 2010.
Red Smoke. 251,5x135cm, oil on canvas, 2016.
Vom ukrainischen Pavillon mit Pavlo Makovs „The Foundation of Exhaustion“ habe ich leider kein Bild, obwohl ich das Flirren in den Augen durch die irritierend buntgemusterten, die Wände hochlaufenden Bodenbeläge hinter dem vielbesprochenen Springbrunnen ganz ansprechend fand..
Toll war auch der Pavillon aus Singapur mit Shubigi Raos „Pulp III: A Short Biography of the Banished Book“. Dort habe ich mich eine ganze Weile aufgehalten, mir den Film und die Publikationen über Büchervernichtungen und deren Einfluss auf zukünftiges Wissen angesehen.
Ach, China. Kuratiert von Zhang Zikang 张子康 mit den Künstler·innen Liu Jiayu 刘佳玉, Wang Yuyang 王郁洋, Xu Lei 徐累 und der sogenannten AT Group | AT小组 (a joint project between Institute of Sci-Tech Arts at CAFA and Tsinghua Laboratory of Brain and Intelligence): „Meta-Scape 元境“. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, ob man heute überhaupt noch etwas meta nennen sollte, nachdem Zuckerberg es einem vereitelt hat, oder gerade deshalb trotzdem, als Rückermächtigung?, ist das eigentlich ein ziemlich guter Name. Leider wars aber ein langweiliger Showoff.
Im Garten endlich Groteskköpfe beziehungsweise mumifizierte, grotesk erscheinende Figuren:
Marianne Vitale: Bottles and Bridges: Advances in Collective Obliteration. Bronze, 2021.
Ebd.
Ein paar Länderauftritte und Begleitshows unterwegs:
Nepal mit Ang Tsherin Sherpas „Tales of Muted Spirits“:
Unsigned Painting of Religious and Touristic Sites in Nepal and Tibet. Distemper paint on canvas, 1990s.
Hongkongs Auftritt lief nicht als Länderpavillon, sondern als „Collateral Event“, das Netz schweigt sich darüber aus, ob die Volksrepublik China Einfluss auf die Biennale genommen hat. Ein wenig Hongkonger Gossip gibt es natürlich trotzdem, etwa dass kaum jemand zur Eröffnung anreiste in der: SCMP, vom 12.5.2022. Organisiert vom M+, von West Kowloon und dem Hong Kong Arts Department Council mit Angela Sus 徐世琪 „Arise, Hong Kong in Venice 懸浮香港在威尼斯“:
Ebenfalls als „Collateral Event“ zeigte die Nomas Foundation von Francesca Leone „Take Your Time“, kuratiert von Danilo Eccher, 23.4.–27.11.2022:
Untitled. Detail, site-specific installation, 14,7x2,7m, oil on rusty recycled sheets metal, 2019.
Untitled. Detail, 400x255cm, aluminium grids and small waste items (cigarette stubs, plastics, cards, bus tickets, small jewellery items), 2020.
Ebd., Detail.
Die Kukje Art and Culture Foundation zeigte Ha Chong-Hyun (*1935), kuratiert von Sunjung Kim, 23.4.–24.8.2022:
Conjunction 83-08 (A+B). 220x220cm, oil on hemp cloth, 1983.
Concunction 20-98. 130x97cm, oil on hemp cloth, 2020.
Na, so schlecht ist die Quote der Länderpavillons mit guten Auftritten doch nicht. Wenn man die uninteressanten rauslässt, wirkt das hier ziemlich sehenswert. Dafür revidiere ich mich gern.
Weitere Ausstellungen
Meine eindeutige Favoritin war die Ausstellung in der Fondazione Prada: Human Brains: It Begins with an Idea, kuratiert von Udo Kittelmann, 23.4.–27.11.2022.
George Guidall.
Die neurowissenschaftlichen Videoerklärungen im unteren Stockwerk haben mich nicht so getriggert, aber dafür allein der Aufbau in den beiden oberen Ebenen. Man betrat und durchschritt ein schwarzes, Gehirngängen nachempfundenes Gebilde. Dort waren in Winkeln die Exponate ausgestellt und 32 Autor·innen eingeladen, über sie zu schreiben. Ihre Texte wurden von immer demselben Vorleser, George Guidall, vorgetragen, dem man auf einem kleinen Bildschirm neben den jeweiligen Exponaten vor sich zusehen und dessen Stimme man über einem an der niedrigen Hirndecke angebrachten Lautsprecher lauschen konnte, wenn man sich direkt darunter stellte. Die weltweit zusammengesammelten Exponate und die mit ihnen korrespondierenden Erzählungen waren einigermaßen chronologisch angeordnet, wobei mich die älteren Ansätze mehr interessiert haben. Hier eine Auswahl:
Incan ceremonial knife (tumi). 13th–15th century, bronze casting; MARKK, Hamburg.
Text von Tilsa Otta: The Circular Illuminations.
Shiva Nataraja. India, 19th century, brass casting; Linden-Museum, Stuttgart.
Text von Charu Nivedita: Tandav at Tadaka.
Heart-shaped amulet engraved with chapter 30 of the Book of the Dead. Egypt, 25th–31st Dynasty, c. 712–332 BCE, green faïence; Museo Egizio, Torino.
Text von Ahdaf Soueife: Verso.
Aristotelis De animalibus libri, Theodoro Gaza inteprete [Aristotle‘s Book of Animals translated by Theodorus Gaza]. Italy, 15th century (original text 4th century BCE), Latin translation, illuminated manuscript on parchment; Biblioteca Apostolica Vaticana, Città del Vaticano.
Text von Daniel Galera: Guide to Manufacturing Bodies.
Huangdi Neijing [The Yellow Emperor‘s classic of internal medicine]. China, 19th century (original text c. 3rd century BCE–3rd century CE), printed book; private collection.
Text von Sheng Keyi: The Old Apprentice Scholar.
Ebd.
Ebd.
Hieronymus Bosch, The Extraction of the Stone of Madness. C. 1501–1505, oil on oak panel; exhibition copy; Museo Nacional del Prado, Madrid.
Text von Hervé Le Tellier: A Change of Perspective.
Man sieht es auf Fotos schwer, aber vor dem Original stehend glaubte man – ich zumindest, aber auch meine Reisebegleitung war darauf aufmerksam geworden –, vor einem Original zu stehen, las jedoch „Exhibition copy“. Auf Nachfrage wurde uns erklärt, dass sich ein Studio in Madrid auf Reproduktionen dieser Art spezialisiert und hier den Auftrag erhalten habe. Vgl. unten das Werk von Rembrandt, dort und hier sind selbst die kleinsten Unebenheiten nachgeahmt, hier gar Brandspuren. Um nicht als Fälschung verstanden zu werden, seien heutige Materialien verwendet worden. Faszinierend.
Pieter Jansz Quast, The Extraction of the Stone. C. 1630, oil on copper; Kunstmuseum St. Gallen.
Text von ebd.
M. Caimi, model of the anatomical theater of the Archiginnasio. Bologna, 18th century, wood; Museo di Storia della Medicina, Dipartimento di Medicina melocolare, Sapienza Università di Roma.
Text von Chloe Aridjis: Four Topographies.
Charles Bell, Illustrations of the Great Operations of Surgery: Trepan, Hernia, Amputation, Aneurism and Lithotomy. London: Longman 1821, printed book with black and white illustrations; The Syndics of Cambridge University Library.
Text von John Keene: The Great Operation.
Max Kohl loop galvanometer for measuring brain waves. Germany, 20th century, metal. Friedrich-Schiller-Universität, Jena.
Text von Akwaeke Emezi: Berger‘s Doll.
Luigi Galvani – Giovanni Aldini, De viribus electricitatis in motu musculari commentaries [Commentary on the effect of electricity on muscular motion]. Modena: Societas Typographica 1792, printed book, etched plates; The Royal Society, London.
Text von Helen Oyeyemi: Big Day.
Rembrandt van Rijn, The Anatomy Lesson of Dr. Jan Deijman (fragment). 1656, oil on canvas; exhibition copy; Amsterdam Museum.
Text von Daniel Kehlmann: Inside the Head of Black John.
S. für die „Exhibition copy“ oben unter Hieronymus Bosch.
Sigmund Freud, Meng de jiexi. Taipei: Chih Wen Publishing Co. 1972; National Central Library, Taiwan. (Eine von zahlreichen ausgestellten internationalen Ausgaben von Freuds „Traumdeutung“.)
Text von Esther Freud: During the Contortions.
Eugène Pirodon (after André Brouillet), A clinical lesson at the Salpêtrière. 1888, lithograph on paper; Freud Museum London.
Text von ebd.
Phrenology cabinet. 19th century, wood, felt, metal (cabinet), plaster and glue (heads); The Anatomical Museum, The University of Edinburgh.
Text von Ayòbámi Adébáyò: On the Head of an Idiot (No. 8).
Das oberste Stockwerk bot an einem Ende eine Wabe, in der Neurowissenschaftler·innen und Philosoph·innen, jede/r in eigenem Videoraum, willkürlich mit ihren Darstellungen abgespielt wurden und dadurch wie im Gespräch miteinander wirkten.
Ebd., Detail.
Die Temperaturen waren hier so extrem heruntergekühlt, dass ich in meinem eigens für diese Stadt übergeworfenen Sommerkleidchen zwischendurch vor die aufwärmende Tür treten musste. Glücklicherweise bietet eine Broschüre alle Texte, die ich jetzt auf Bahnreisen lese, leider nicht online verfügbar.
Im Palazzo Grassi lief Marlene Dumas: open-end, 27.3.2022–8.1.2023. Unbestreitbar große Malerei an einem wunderschönen Ort. Thematisch finden sich hier erregte Seelen, Körper zwischen Schmerz und Sex, gequält bis ächzend zu euphorisch, großteils in Extremsituationen. All die vielen gewollt ausdrucksstarken Gesichter blieben für mich leider meist an der Oberfläche und gingen mir selten unter die Haut, vielleicht wabere ich in meinem Dasein zu wenig exzessiv dahin, vielleicht sind mir aktuell theoretische Inhalte näher.
(V. l. n. r.) The Origin of Painting (The Double Room). 300x100cm, Öl auf Leinwand, 2018.
Time and Chimera. 300x100cm, Öl auf Leinwand, 2020.
The Making of. 300x100cm, oil on canvas, 2020.
Rat. 30x40cm, oil on canvas, 2020.
Magdalena (Out of Eggs, Out of Business). 200x100cm, oil on canvas, 1995.
Gallerie dell‘Accademia di Venezi und Palazzo Manfrin zeigten Anish Kapoor, 20.4.–9.10.2022. Hier nur aus der Akademie:
Sky Mirror. 330x330cm, stainless steel, 2018.
Pregnant White Within Me. Mixed media, paint, 2022.
Von der einen …
Ebd.
… und von der anderen Seite. Online finden sich aber definitiv nachvollziehbarere Fotos.
Mother as a Mountain. Mixed media, pigment, 1985.
Und durch die Flure der Akademie:
Sorry, habe leider die Angaben verpasst.
Antonio Canova (1757–1822): Leoni | Lions. 1783–1792.
Als eine Frechheit habe die Ausstellung im Punta della Dogana empfunden mit Bruce Naumans „Contrapposto Studies“, 23.5.–27.11.2022. Was ein grandioser, was ein riesiger Ort, der ihm zur Verfügung stand. Und was macht dieser in den 1970er Jahren so wegweisende Künstler hier und heute?
Auf wie vielen Ebenen, in wie vielen Räumen, auf wie vielen unzähligen Quadratmetern liefen auf teils massigen, definitiv sündhaft teuren Videotafeln in Endlosschleife fast ausschließlich die in Jeans gekleideten Beine von Bruce Nauman hin und her. Auf mich wirken Arbeiten, die sich exzessiv mit der eigenen Person beschäftigen, recht egoman. Ein Erkenne dich erst selbst, bevor du deine Sicht öffnest, finde ich natürlich in Ordnung, auch gelegentliche Selbstporträts spannend, Mäßigung vermessen, aber so sehr interessieren mich die Künstler·innen hinter ihren Arbeiten meist dann doch nicht. Frederik sieht das anders, sein Argument hier: Wenn Nauman schon Laufstudien zeigen muss, dann wenigstens mit der eigenen Person. Das sehe ich ein, also gut, davon einmal abgesehen.
Auch für Repetitionen gibt es gute Argumente, mich hat die Show allerdings nicht in erhellenden Trance versetzt, sondern bereits der erste Bildschirm in gähnende Langeweile. Normalerweise geht man weiter, wenn einen etwas nicht anspricht, nur dass es hier einfach nicht aufhörte. Mich wundert, und ich nervte meinen Reisekumpan damit die folgenden Tage, wie jemand, der bahnbrechende Kunst hervorgebracht hat, jetzt so einen Müll produzieren kann. Hat Nauman keine Beratung oder ist er beratungsresistent, sagt ihm vor lauter Ehrfurcht niemand die Wahrheit? Dass Orte Galionsfiguren lieben, ist vollkommen in Ordnung, dass dafür so viel offensichtliches Budget verschleudert wird, mit dem so viele tolle Sachen hätten produziert werden können, passiert leider häufiger als gerechtfertigt. Aber diese Show kann doch keiner ernst meinen. Warum stoppt die niemand, wenn schon niemand Nauman stoppt? Noch schrecklicher und auf einen selbst als Obacht für die Zukunft anwendbar: Merkt man ab einem gewissen Alter vielleicht einfach keine Einschläge mehr und glaubt, Narrenfreiheit für jeden Furz zu haben?
Einzig gut, weil es einen Trick mit der Erwartungshaltung spielte, fand ich einen 3D-Film irgendwo oben. In dem war wiederum das Motiv seines hin- und hergehenden Ichs, dieses Mal im Studio mit Hintergrund abgefilmt. Sehr simpel, aber effektiv ging er auf der oberen Hälfte in die eine, auf der unteren in die andere Richtung, die zusammengeschnitten ein Wabern ergaben. Aber bitte Auswahl, guter Herr, warum muss gleich im nächsten Raum eine weitere Version folgen? Ok, den Effekt im dritten Raum, in der eine angeschrägte Wand so gefilmt war, dass der dortige Ganzkörper-Nauman wirkte, als stünde er vor der Leinwand, fand ich dann auch wieder ganz witzig.
Gleich daneben an der Santa Maria della Salute in ähnliche Kerbe schlagend: Finanzierung muss schon sein, aber Cartiers Platzierung in Säulen und unter Heiligtum ist dann doch ziemlich obszön.
In der Basilica Santa Maria Gloriosa dei Frari wollten wir uns Tizians „Assunta: Mariä Himmelfahrt“ ansehen, leider in Restauration, aber, sofern die DeepL-Übersetzung italienischer Webinformationen korrekt ist, seit Anfang Oktober nun nach vier Jahren wieder zu bewundern, nächstes Mal.
Hier nur eine Reproduktion auf Tuch.
Zwischendurch für Charly gefunden und geknipst.
Habe ich solange nicht mehr gebloggt, dass mir die hier doch recht miese Fotoauflösung wieder auffällt? Ich hoffe, es geht wenigstens auf dem Handy.
Siehe im Zuge dieses Beitrags auch 关于这个话题也看: 58. Biennale in Venedig 2019 | 2019年第58届威尼斯双年展.
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