Samstag, 13. November 2021
Nord und Süd: Sylt und Allgäu 2021
In diesem Jahr war ich sehr wenig unterwegs. Hauptsächlich habe ich mich an meinem Schreibtisch aufgehalten, in meiner Wohnung, die ich seit Coronabeginn als woyou shi 卧游室, Kammer des Zuhausebleibenden Umherwandelns, bezeichne. Im September war ich dann aber gleich auf zwei Reisen und endlich einmal wieder ausgeflogen.

Im Norden auf Sylt



Pfeifender Wind, die schnurgerade Horizontlinie stets im Visier, kilometerlange Sandstrände und entsprechend endlose Spaziergänge, Dünen und diese halten zu versuchendes Gestrüpp, Gezeiten, ziemlich salziges Salzwasser mit Brechern, gegen die man sich herrlich werfen, in die man eintauchen, von denen man sich verwirbeln lassen kann. Und das Ganze nur gute drei Stunden in direkter Zugverbindung von Hamburg entfernt.






Der als Überblick von der Uwedüne. Im Flachland werden Höhenmeter mit Kommazahlen angegeben, Erhebungen als Dünen bezeichnet, von 52,5m ist dies der Blick gen Norden, im Hintergrund ist oben die dänische Insel Rømø zu sehen.






Land(wieder)gewinnungsversuche, die links mit Sand saugenden Rohren noch hunderte Meter in die Nordsee hinein weitergingen.


Im Süden im Allgäu















Die Farben wirken hier so unglaubwürdig gesättigt, dass man sie hinterher am Rechner drosselt. Ouh, aber dann kommt Nebel auf …








Neuschwanstein

Meine chinesischen Freund⋅innen waren, wenn in Deutschland, alle schon hier, das Marketing funktioniert in Absprache mit Disney und seinem Logo perfekt. Unter Coronabedingungen ist es zu ertragen, aber die Massenbewältigung mit ihren breiten, abgezäunten Wegen bleibt, ja, verständlich, mache ich in China auch alles mit, aber hierzulande ist es gruselig. Und an Schlössern gibt es in Deutschland bestimmt interessantere und schönere, auch abgesehen von meine vermutlich urdeutsch verklärte Seele reizenderen Ruinengebilden. Man kann sich diesen Pilgergang wirklich schenken. Eigentlich bin ich sogar ein wenig sauer auf mich, dass ich mich habe verlocken lassen. Gut, ich kann hier mal wieder ein bisschen stänkern, ich konnte Kitsch knipsen und habe jetzt die unnötige Gewissheit, dass man nicht jedem Werbegag folgen muss, und natürlich ist es immer nett, mit lieben Menschen einen Tag zu verbringen, aber für letzteres gibt es wahrlich andere Gelegenheiten.


Genau im Bildzentrum findet sich des Schlosses Zipfel, von der niedrigen Auflösung hier zerfressen, aber macht nichts, gleich gehts los.


Ein wenig widersprüchlich ist meine Anzahl der den Ergüssen König Ludwigs Nummer Zwoi von Bayern gewidmeten Bilder. Nichts gegen Exzentrik, deren Betrachtung genieße ich gerne und in vollen Zügen, wenn man mit ihnen nicht Menschen und Geldtöpfe ausgeblutet hat. Aber leider ist dieses Schloss auch rein ästhetisch von innen wie außen ein Reinfall. Ein Bild von meiner Seite hätte allemal gereicht, ein komplettes Verschweigen wäre mehr als gerechtfertigt. Wenn ich Sachen aus meinem Haushalt versehentlich zerstöre, Porzellan zerschlage oder Pflanzen aus unerfindlichen Gründen eingehen lasse, verstöre ich mich damit, sie mir als kleine Mahnmale über Monate hinweg in mein Blickfeld zu stellen. So ähnlich kann wohl die Zurschaustellung der hiesigen Fotos verstanden werden.


War alles gesperrt, diese Brücke genauso wie ein angepriesener Wasserfall in der Nähe. Sah man sich natürlich trotzdem aus der Ferne an, wegen der Anreise und des zugewiesenen Timeslots um 16 Uhr irgendwas.






Doch eine durch Wolken berstende Sonne vertreibt selbst den muffeligsten Graupel am Ende.


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Reisen benötigen Bücher, hier drei Romanempfehlungen:



Jonathan D. Spence (2005 [2001]): Verräterische Bücher: Eine Verschwörung im alten China (Original: Treason by the Book). Übs.: Susanne Hornfeck. München und Wien: Hanser.

Literarisch aufgearbeitet liest sich Spence‘ Recherche wie ein Roman. Anhand von Originalquellen verfolgt der altehrwürdige Sinologe und Historiker einen Brief, der einen General Anfang des 18. Jahrhunderts zur Rebellion aufrief. Es entspinnt sich eine Staatsaffäre, die, von einem unbedeutenden Übermittler ausgelöst, tief in die bürokratische Apparatur der Qing-Dynastie führt. Um der eigenen Anklage zu entgehen, muss sich General Yue Zhongqi (1686–1754), ein Nachfahre von Yue Fei (s. Kay unten), dieses Falles annehmen. Beschrieben werden die staatliche Überwachungsmechanismen bis in die hintersten provinziellen Verwaltungseinheiten des Landes, der Aufbau eines Regierungssystems mit Angst und Gehorsamkeit in ihren historisch gewachsenen Ausmaßen mit der steten Gefahr der Verbannung in malariaverseuchte Gebiete. Geboten werden Einblicke in die Komplexität der chinesischen Gesetze bis in ihre Hundertsten Paragraphen hinein, in das Berichtssystem und die Vorschriften des Protokolls zwischen Kaiser Yongzheng (1678–1735) und seinen Magistraten sowie in die Geschwindigkeit der Übermittlung von Botschaften. Thematisiert werden immer wieder ethnische Zugehörigkeiten und die damit einhergehenden Vorbehalte, etwa in der kaiserlichen Abneigung gegenüber Menschen aus Zhejiang, die der Mandschu Yongzheng für „arrogant und boshaft“ hält (S. 38). Es geht um Militärstrategien, um Probleme der Steuereintreibung, um die Überwachung der Moslems in Gansu und die Handhabung gegenüber Vertretern des Dalai Lama. Ein großartiger Fundus!




Guy Gavriel Kay (2017 [2013]): Am Fluss der Sterne (Original: River of Stars). Übs.: Ulrike Brauns. Frankfurt: Fischer Tor.

Der zweite Band aus dem fiktiven Reich Kitai ist ans Ende der chinesischen Nördlichen Song-Dynastie (960–1126) verlegt und folgt dem ersten Teil, „Im Schatten des Himmels“ von 2016 (Original: Under Heaven, 2010), der in der Tang-Dynastie bis zur An Lushan-Rebellion (8. Jh.) spielt.

Es geht um die Rückeroberung verlorener Gebiete an die nördlichen Barbaren, die Jurchen, Vorfahren der Mandschus, hier Altai genannt, und schließlich um den Verlust von weit mehr Territorium hin zum Untergang der Nördlichen Song. Mit magisch-fantastischen Elementen allgegenwärtiger Erwähnungen von Geistern, dann der Figur eines Fuchsgeistes, mit den literarischen Anleihen Gesetzloser in den Sumpfgebieten aus dem Shuihu zhuan (auf Deutsch: Die Räuber vom Liangshan-Moor, 14. Jh., spielt um 1120), verknüpft mit der Geschichte des historischen Heerführers Yue Fei (1103–1142), besticht Kay mit etlichen überlieferten Referenzen. Dabei kommt er angenehmerweise ganz ohne Erklärungen aus. Es geht um Hofintrigen von Ministern und Eunuchen, um Verbannungen von Dichtern und Gelehrten. Der Aberglauben von Kaiser Huizong, der hier Wenzong heißt, und der verbreitete Geisterglaube werden nie ins Lächerliche gezogen, sondern als zu jener Zeit selbstverständlich dargestellt. Den Beschreibungen beispielsweise von Kaiser Huizongs Vorlieben der Kunst vor seinen Staatsgeschäften, von seinem kalligrafischen Stil des schlanken Goldes, seines Gartenbaus und daoistischen Umgangs mit Konkubinen, der Vermessung seiner Handlänge für Musikreformen und ihrer Aufnahme durch seine Untertanen fehlt es dabei nicht an Witz, selbst wenn man die Bezüge nicht kennt oder einem etliche entgehen. Gerade gegen Ende wird die wiederholte Erwähnung des Verfahrens von Geschichtsschreibern etwas ermüdend. Aber es ist ein wunderbar kurzweiliges Vergnügen, von Action bis Romance ist hier alles enthalten, was einen Hollywood-Blockbuster ausmacht.




Viet Thanh Nguyen (2017 [2015]): Der Sympathisant (Original: The Sympathizer). Übs.: Wolfgang Müller. München: Blessing.

Einer der besten Romane, die ich seit langem gelesen habe. Mit diesem, seinem ersten Roman erhielt der vietnamesisch-US-amerikanische Schriftsteller Nguyen 2016 wohlverdient den Pulitzer-Preis für Belletristik.

Die Hauptthemen dieses Werkes, der Vietnamkrieg und die US-Migration in der selten dargelegten vietnamesische Perspektive, wären wohl kaum zu ertragen, wenn die Hauptfigur besonders in ihren nebensächlichen Anmerkungen nicht so unglaublich witzig wäre, um nicht zu sagen sympathisch. Wobei hier mit Sympathien die für den Kommunismus gemeint sind, als Sympathisanten bezeichnet sich der unzuverlässige Erzähler selbst, weil er mit zwei Perspektiven sehen kann. Die Verlagsbeschreibung des Romans als Politthriller, Spionageroman, historisches Kriegsdrama, politische Migrantengeschichte, im Englischen noch als Metafiktion, gibt sich ziemlich übertrieben. Und doch ist es all dies. Es handelt sich um die anonymen Aufzeichnungen eines erzwungenen Geständnisses von einem politischen Gefangenen, einem nordvietnamesisch-kommunistischen Spion in der südvietnamesischen Armee, der in der südvietnamesischen Exilgemeinde in Los Angeles landet. In rasantem Tempo erzählt der darüber hinaus noch mit der Problematik eines französischen katholischen Priesters als Vater beglückte Protagonist von seinen Erlebnissen seit dem Fall von Saigon 1975 und kommentiert diese Ereignisse unverfroren ehrlich in ihren politischen und in seinen persönlichen Widersprüchen. Die eindimensionale amerikanische Sicht auf den Vietnamkrieg wird etwa besonders deutlich in einem Nebenjob der Hauptfigur als Vermittler für einen amerikanischen Film zu diesem Thema beschrieben. Die Fortsetzung ist bestellt: Die Idealisten (Original: The Committed), beide 2021.


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