Sonntag, 21. November 2021
Hamburg und ein wenig München: Kunst 2021
Dieses Jahr habe ich offline extrem wenig Kunst gesehen. Unten gibt es eine Stippvisite nach München, in Hamburg liefen und laufen:

Tom Sachs

In den Deichtorhallen läuft Tom Sachs Space Program: Rare Earths (Seltene Erden), Halle für aktuelle Kunst, 19.9.2021–10.4.2022.


Hauptraum (Mitte): Landing Excursion Module (LEM) – Landefähre. Stahl, Sperrholz, Epoxidharz, verschiedene Materialien – steel, plywood, epoxy resin, mixed media, 703,5x668x668cm, 2007.

Aus Alltagsmaterialien hat Sachs hier sein NASA-Space Program nachgebaut – die hohe Deckenkonstruktion aus Stahl und Glas ist wie so häufig ideal für diese Bespielung der gesamten Halle. Im Eingangsbereich betritt man bereits das „Welcome Center“, der Hauptraum ist in verschiedene Szenarien unterteilt, hinten finden sich Extraräume, das „Anechoic Chamber“ (der schalldichte Raum), das „Museum of the Moon“ mit 16 Exponaten und das „Re-education Center“ mit sieben verschiedenen Videos. Ein weiterer Raum neben dem Eingang nennt sich „Indoctrination“, wo selbst gebastelt werden kann. Eine großartige Show, gestört haben mich einzig die überall angebrachten rüden Abweisungen wie „Don‘t fucking touch“, ich werde nicht so gerne angeraunzt.


(Mitte 中间) Mission Control Center (MCC). Verschiedene Materialien | mixed media, 297,9x490,4x151,8, 2007–16.
(Vorne 前面) MCC Console. Verschiedene Materialien | mixed media, 78,7x60,9x30,4cm, 2012.
(Links 左边) Male Fragility. Verschiedene Materialien | mixed media, 157,4x81,2x86,3, 2020.
(Links und rechts 左右边) Euronor (Set of 2 Speakers). Sperrholz, verschiedene Materialien | plywood, mixed media, 365,7x152,4x147,3cm, 2012.


Im Raum „Transubstantiation“: Transubstantiation. Verschiedene Materialien | mixed media, 430,4x269x90,2cm, Detail, 2021.


Im Raum „Museum of the Moon“: Doctor. Schichtholz, verschiedene Materialien | plywood, mixed media, 215,9x139,7x44,5cm, 2009–11.


Vehicle Assembly Building (VAB). Sperrholz, Latexfarbe, Stahlbeschläge | plywood, latex paint, steel hardware, 398,7x685,8x673,1cm, 2020.
Zwei wichtige Inspirationsquellen scheinen für Sachs Yoda und Jack Daniel‘s zu sein, die häufig in seine Werken eingebaut sind. Einer Yoda-Figur von etwa fünf Zentimetern ist hier gar ein eigener Raum in kompletter Finsternis mit beleuchtetem Altar gewidmet, vermutlich als Mausoleum für das „Golden Idol“ gemeint. Im Begleitheft ist zu lesen, dass „nur die tief Gläubigen und Indoktrinierten teilnehmen“ dürften.




Das Haus der Photographie der Deichtorhallen wird bis voraussichtlich 2024 saniert und umgebaut. Dafür eröffneten am 29.9.2021 die temporären Container mit Namen „PHOXXI“, was „Photographie“ plus „21. Jahrhundert“ bedeuten soll.




Werner Büttner

In der Hamburger Kunsthalle läuft Werner Büttner: Last Lecture Show, 15.10.2021–16.1.2022. Dem Malereiprofessor der HbK ist zum Abschied in den Ruhestand eine Retrospektive gewidmet. Daniel Richter studierte bei ihm und auch Jonathan Meese hat bei ihm gelernt. Mir gefallen insbesondere die Bildtitel.


Antagonismushaken | Antagonism Hook. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1997.


Russische Hochzeit | Russian Wedding. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1986.


Entrücktheit für Fortgeschrittene | Advanced Other-Worldliness. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 2011.


Der Ursprung des Landlebens | The Origin of the Country Life. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 2007.


Anpfiff zur Biographie | Starting Whistle for Biography. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1998.


Whirling Weltgeist. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 2020.


Ausgebrannter Hengst | Burned-Out Stud. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 2018.

Zu den Collagen wurde nur die Angabe „aus den frühen 1980er Jahren“ gegeben:


„Fatal orientierte Blechbläser“.


„Wenn das Böse siegt, ist dann endlich Ruhe?“


„Nur die Wirklichkeit darf es wagen, so zu sein“.


„Portrait einer Tante“.

Update, 13.12.2021: Der als „renitent“ (SZ) beschriebene Büttner, der „über das jämmerliche Patriarchat spottete“ (Zeit) musste sein Bild „Büttner geht von Bord“, 2020, abhängen, weil er es – noch streiten die Anwälte – von seiner ehemaligen Studentin Meng Yin plagiiert habe, s. Das verschwundene Bild, Zeit Online, 11.12.2021.


Raffael


Raffael: Kopf eines Cherubs | Head of a Cherub. Kohlezeichnung | charcoal, ca. 1509.

Ebenda lief Raffael: Wirkung eines Genies, Hamburger Kunsthalle, 2.7.–3.10.2021.

So wie bereits im Sommer 2019 von der Kunsthalle vier Skizzen von Leonardo da Vinci präsentiert wurden (von mir hier untergebracht, mit Strg.+f im unteren Drittel), waren nun drei Zeichnungen aus der hauseigenen Sammlung von Raffael Anlass einer Ausstellung. Auch bei Raffael ging es um Hommagen, nun allerdings sinnvollerweise bereits im Titel. Eine nette Ausstellung, die Postkarten des Engelskopfes waren sofort vergriffen.


Francois Perrier: Merkur schwebt vom Olymp herab | Mercury Descending from Olympus. Radierung | etching, ca. 1641.


Impressionismus

Außerdem läuft in der Hamburger Kunsthalle Impressionismus: Deutsch-französische Begegnungen, 29.10.2021–31.12.2023.

Die Verbindung mit Frankreich als Ursprung des Impressionismus macht natürlich Sinn. Es werden Kategorien wie Landschaft, Porträt, Stillleben, Pastelle und Stadtansichten, diese vor allem wegen einiger Auftragsarbeiten von 1889 des ersten Kunsthallendirektors, durchgegangen. Dann ist Max Liebermann (1847–1935) ein eigener Raum mit dem Titel „Vom Realismus zum Impressionismus“ gewidmet. Ein weiterer Raum beschäftigt sich mit der „Zeitenwende“ um 1900 (s. u.: Munch, Hodler), am Ende wird der Kubismus gestreift.


Max Beckmann: Große graue Wellen | Large Grey Waves. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1905.


Pierre Bonnard: Abend am Uhlenhorster Fährhaus | Evening at the Uhlenhorster Fährhaus. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1913.


Max Liebermann: Abend am Uhlenhorster Fährhaus | Evening at the Uhlenhorster Fährhaus. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1910.


Max Liebermann: Die Netzflickerinnen (Ölstudie) | The Net Menders (oil study). Öl auf Pappe | oil on cardboard, 1887.


Ebd.: Studie zu den Netzflickerinnen | Study to The Net Menders. Öl auf Karton auf Holz | oil on cardboard on wood, 1887.


Ebd.: Die Netzflickerinnen | The Net Menders. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1887/89.


Edvard Munch: Mädchen am Meer | Girls on the Shore. Mischtechnik auf Leinwand | mixed media on canvas, 1906/07.


Ferdinand Hodler: Thunersee mit Stockhornkette | Lake Thun with the Stockhorn Mountain Range. Öl auf Leinwand | oil on canvas, ca. 1910.


Ebd.: Blick ins Unendliche | View into Infinity. Öl auf Leinwand | oil on canvas, ca. 1903.


Lyonell Feininger: Regamündung III | Mouth of the Rega III. Öl auf Leinwand | oil on canvas, 1929/30.




Dazu leuchtet von Moritz Frei: I Don‘t Believe In Dinosaurs, 2017/ 2021, oben auf der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle, März 2021 bis voraussichtlich Mai 2022. Zwar dem Altbau zugewandt, sieht man die Lichtinstallation nur mit diesem im Rücken, mit einem gedanklichen Dreher mehr würde es aber auch so funktionieren, oben auf der dicken Kunsthalle sitzend zu den Gegenwartsgrößen von: Ich seh euch nicht, ich glaub nicht an euch; hin in Richtung der Altmeister: Ich seh euch und glaub erst recht nicht an euch.


Emil Nolde

Nolde und der Norden, Bucerius Kunst Forum, 16.10.2021–23.1.2022.

Hier darf leider nicht fotografiert werden, Auflage der Sammler⋅innen für die Leihgaben. Eine eher merkwürdige Ausstellungskuration. Noldes Antisemitismus und NSDAP-Mitgliedschaft sowie anschließende Leugnung aufgrund des Beleges, dass er 1941 als entartet gewertet wurde, müssen natürlich thematisiert werden – werden es allerdings nur im Einführungstext mit der abschließenden Aufforderung „zur Diskussion“. Vielleicht folgt mehr in dem einstündigen Dokumentarfilm hinten im separaten Raum; in der knappen halben Stunde, die ich gesehen habe, kam es nicht zur Sprache. Gut, an diesem Thema kann man fast nur scheitern. Auch die titelgebende Gegenüberstellung mit weiteren Werken dänischer Zeitgenossen ist legitim, sie hat sich mir nur nicht erschlossen. Die Werke aus den etwa 1880er bis 1940er Jahren sind nicht chronologisch, sondern im Ansatz thematisch gehängt (Porträts, Interieur, Landschaft, Dorfleben), was prinzipiell ebenfalls vollkommen zu rechtfertigen ist. Aber was nur soll es einem sagen, dass impressionistische, realistische und expressionistische Arbeiten wild durcheinander angebracht sind? Dass es diese Strömungen gab und sie ihn beeinflussten? Dass das Leben aus Chaos besteht?

Zumindest wird deutlich, dass Nolde nicht nur in seinen Anfangsjahren, dort aber bildlich nachweisbar, mit seinen inneren Dämonen gekämpft haben muss – in einem Raum hinten links geht es von seinen Räuberbildern zu selbsterdachten, mythisch angehauchten Fabelwesen. Aber auch in späteren Bildern tritt seine Zerrissenheit hervor, die nicht nur an den harschen nordischen Wetterverhältnissen gelegen haben kann, und in ihrer Bandbreite von himmelhoch leuchtend bis zu Tode trüb alles aufweisen. Spannend bleibt die reiche Facette seiner Farbpalette, sein Umgang mit Licht und Schatten und die verschieden aufgegriffenen Malrichtungen.


München: Haus der Kunst

Im Haus der Kunst läuft Heidi Bucher: Metamorphosen, 17.9.2021–13.2.2022.


Bodyshells. 1-Kanal16mm-Film, digitalisiert, Farbe | single-channel 16mm film, digitised, colour, 1‘57‘‘, Filmstill, 1972.


Kleines Glasportal (Sanatorium Bellevue, Kreuzlingen) | Small Glass Portal (Bellevue Sanatorium, Kreuzlingen. Baumwolle, Fischleim, Latex | cotton gauze, fish glue, latex, 1988.


Ebd., Detail.


Hautraum (Ricks Kinderzimmer, Lindgut Winterthur) | Skin Room (Rick‘s Nursery, Linggut Winterthur. Gaze, Fischleim, Latex, Bamburg, Draht | gauze, fish glue, latex, bamboo, wire, 1987.


Räume sind Hüllen, sind Häute | Rooms Are Shells, Are Skins. 1-Kanal16mm-Film, digitalisiert, Farbe, Ton | single-channel 16mm film, digitised, colour, sound, 33‘, Filmstill, 1981.


Menhaut | Men Skin. Gaze, Latex, Haare | gauze, latex, hair, 1986.


Im oberen Stockwerk wird die Gruppenausstellung Sweat gezeigt, Haus der Kunst, 11.6.2021–9.1.2022.


Daniel Lind-Ramos: Con-junto (The Ensemble) | Mit-einander (Das Ensemble). Mixed Media, 2015.


Tschabalala Self: Loveseat Prototype 1–3 | Liebessitz Prototyp 1–3. Gipsabdruck, Hausfarbe | plaster cast, house paint, 2020.


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Vielleicht für die eine oder den anderen von Interesse: 2021–22 begleite ich das Projekt „Deutsch-chinesischen Museumsgespräche“ für das Goethe-Institut China, chinesisch unter: 中德美术馆对话, wir organisieren Workshops, Open Calls und andere Veranstaltungen, schaut gerne einmal vorbei.


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