Montag, 28. Oktober 2019
Am Rooster Mountain in Henan

Ausstellungspräsentation 展览现场 (siehe die ersten 12 Bilder im Text): Stefanie Thiedig 由甲: At Rooster Mountain in Henan there is also Nebula, Serie 在河南鸡公山也有雾,系列. Print on paper (German Etching), 12x 40x60cm; pencil on rice paper, 40x180cm, 2019. 纸上印刷12x 40x60cm;宣纸上铅笔,40x180cm,2019年.

Die folgende Erzählung basiert auf dem mündlichen Bericht von Laowang oder auch Wangzong, dem Chef Wang, wie der Leiter des neuen Kunstviertels an dem Berg, um den es hier geht, von seiner Gefolgschaft genannt wird. Die Geschichte ist nicht nachgeprüft und die Daten können leicht durcheinandergeraten, die Namen vergessen worden sein. Anders gesagt enthält sie alles, was eine gute Legendenbildung ausmacht. Deshalb beginnt sie mit:

Es war einmal ein amerikanischer Missionar, der sich im Sommer 1904 aus der Hitze Hankous auf den Weg nach etwas Abkühlung machte. Hankou war damals eine beliebte Stadt für Handelsvertreter der westlichen Welt, die im Auftrag kolonial denkender Regierungen oder auf eigene Faust den heutigen Stadtteil von Wuhan im Herzen Chinas am Yangtse besiedelten. Pater Wallace, wollen wir ihn vorübergehend nennen, gelangte über knapp 200 Kilometer in den Norden. Dort kam er am Jigongshan an, dem Rooster Mountain, so bezeichnet nach seiner äußeren Form eines Hahns. Dort ragte dem Pater ein 200 Meter hoher Felsblock entgegen.





Laowang schiebt ein, dass Chinesen zum Zeitpunkt der ausgehenden Qing-Dynastie nicht wie Westler auf Bergen wohnten, sondern in ihren Tälern. Berge wurden von Gelehrtenmalern und Lustwandlern zum Frönen des Schöngeistes aufgesucht und schon einmal mit einer Pagode versehen. Zum Wildkräutersammeln und für das Vieh ging die einfache Bevölkerung hinauf, aber sie wurden außer von Eremiten nicht bewohnt.





Zu diesem Felsen nun wollte der Pater und es fand sich ein darüber die Stirn runzelnder Anwohner, der die Trampelpfade kannte. Was eine Bergkette, welch Vielfalt bei jeder neuen Biegung, was ein massiver, mächtiger, ja erhabener Felsen in seiner Mitte. Wenn da nicht der Herrgott persönlich am Werke war. Vor allem aber war es angenehm kühl, schattige Lichtungen und laue Lüftchen in seichtem Auf und Ab der Landschaft machten die Idylle perfekt. Wieder im Tale wurde der Geistliche zum Geschäftsmann und ließ jemanden mit Verwaltungsbefugnissen auftreiben, um ihm den Berg abzukaufen. So kam er für stattliche 400 Einheiten Silber in den Besitz von 2,8 Quadratkilometern. Darauf unterteilte Wallace den Sahnekuchenberg in 500 Parzellen und inserierte diese – zurück in Hankou – in der New York Times und der London Times. Im Handumdrehen waren alle Grundstücke verkauft und es begannen Amerikaner, Kanadier und Engländer, Holländer, Belgier und Franzosen, Spanier, Portugiesen, Deutsche, Dänen und Japaner ihre Villen zu bauen. Der eine oder andere Chinese war auch dabei. Das Wallace- und sein Pater-Dasein schlossen sich noch nie wirklich und auch hier nicht aus. Aus den ersten Einnahmen baute er eine Kirche und sein Gemeindehaus. Beide stehen heute noch, sowie daneben die Polizeistation und die Feuerwehr, die eine mit blauen, die andere mit roten Fensterrahmen. Insgesamt lebten bis Anfang der 1930er Jahre gut 3 000 Menschen hier. Was zunächst als Sommersitz angedacht gewesen sein mag, wurde bald eigenadministrativ genutzt. Es entstanden acht Schulen, von denen die amerikanische für 1 000 Kinder die größte war. Es gab eine Einkaufsstraße, Restaurants und Schönheitssalons. Ich stelle mir vor, dass hier hauptsächlich die wohlhabenden Damen mit Nachwuchs und Hausangestellten residierten.





Von den ehemals 500 Einheiten stehen heute noch 200. Ihre Bausubstanz ist großteils in ungewöhnlich gutem Zustand. Die Räume sind längst von Möbeln und persönlichem Habe geleert, viele Fenster entfernt. Nachdem man hier baute und einzog, trat ein Phänomen ein, dem man in China immer wieder im Verlauf der Geschichte und bis heute ausgesetzt ist: Man kann sich für ein paar Jahre, manchmal für ein paar kurze Jahrzehnte eine beschauliche Existenz aufbauen und muss dann aufgrund von äußeren Umständen weiterziehen. Vielfach handelt es sich heute um bauliche Maßnahmen, einen Staudamm, eine Bahntrasse, dann muss ein Künstlerdorf weichen, eine ganze Siedlung sich zerstreuen – das dazu häufig zu hörende meibanfa, da kann man nichts tun, wird also traditionell erduldet. Hier beendete spätestens der 2. Weltkrieg den Aufenthalt der Ausländer. Während des Bürgerkriegs zwischen den Kommunisten und der Guomindang verschanzten sich Sun Yat-sen und Chiang Kai-shek am Berg. Von letzterem kann man heute durch ein kleines Museum hinab in seinen damaligen Bunker steigen. Mit Gründung der Volksrepublik 1949 und Flucht der Nationalisten nach Taiwan wurde der gesamte Berg zum militärischen Sperrgebiet. Deshalb sind die Bauten überhaupt nur so gut erhalten und wurden auch während der Kulturrevolution nicht zerstört.





Einmal bin ich in eine restaurierte Ecke geraten, wo vielleicht zehn Villen wieder bewohnt, die Gärten gepflegt werden. Sonst sind heute ein paar wenige Spuren aus den 1990ern vorhanden, hier eine Stromleitung, dort ein Gebäude mit zu jener Zeit gerne verwendeten blauen Fenstern und weiteren ersten Ansätzen touristischer Umgestaltung. Aus den letzten Jahren stammen die Hauptstraßen, die Straßenschilder und gelegentlichen Infotafeln. Man spürt – und fürchtet – den neuerlichen Versuch der Touristifizierung. Doch abgesehen von den Hauptrouten, auf denen man ab und zu anderen Reisenden begegnet, abgesehen von den seltenen Einheimischen, die sich in dem einen oder anderen Haus eingerichtet haben, ist man hier meist alleine unterwegs.





Ich habe noch nie solch eine enorme Pflanzen- und vor allem Baumvielfalt auf so großer Fläche gesehen, von den Westlern damals um die jeweils eigenen heimischen Bestände erweitert und bis heute entsprechend integriert und vermehrt. Besonders gut betritt man diesen Ort im Nebel. Man betritt ihn respektvoll wie einen Friedhof – ohne Tote, aber doch mystisch mit einem Gefühl möglicher Geister. Vielleicht kommt man sich deswegen fast ein wenig voyeuristisch vor, als stöberte man in einer alten Gala-Ausgabe. Von den teils eng aneinander lehnenden Grundstücken geht es über alte Steintreppen verwinkelt und verwachsen gen Anwesen, jedes mit mehreren Zugängen der Hügellage entsprechend oder heimliche Stelldicheins gewährend. Man nähert sich behutsam, bildet sich den Anschein eines um die Ecke verschwindenden Kindes ein. Setzt sich auf eine Steinmauer, an einen vielleicht noch vorhandenen Steintisch im Garten, lässt die hier stattgefundenen Geschichten um sich herum entfalten, lässt sich hineinziehen. Bösartigen Geistern, wenn man an sie glauben mag, bin ich nicht begegnet. Ich bin mir sicher, dass auch dieser Ort nicht von Lug und Betrug verschont blieb, bestimmt nicht bei solch einer Gemeinschaft mit so viel Freizeit. Doch wirkt hier alles ungemein friedlich und freundlich, in diesem möglichen Schein lockt es einen regelrecht, sich in seine Untiefen zu begeben.





Die allesamt als Villen bezeichneten Gebäude reichen von einfachen Einfamilienhäusern bis zu stattlichen Herrenhäusern. Ihre Stilrichtungen entsprechen den damaligen Vorlieben und gut erkennbaren Eigenheiten der jeweiligen Heimat ihrer Bauherren. So verweilt ein deutsches Haus in seinem breiten, in sich ruhenden Platz- und Machtanspruch knapp vor dem Moment, in die Komik zu kippen. Die dänischen Häuser sind flach und dem Geschehen abgewandt, die japanischen mit schlicht eleganten Giebeln, die chinesischen mit wilden Hutkreationen …







Das Kunstviertel nun entstand aus dem Naturbedürfnis im Zuge der ständigen Abrissmaßnahmen von Künstlerkommunen in Beijing 2015. Der Kunstliebhaber Laowang saß mit einigen Künstlerfreunden zusammen, auf das ansteigende Lamento der Zeit folgte ein gedanklicher Streifzug durch die Weiten des Landes. Laowang, der aus Henan stammt, erinnerte sich an einen nie genutzten Bau in den Ausläufern des Rooster Mountains. Wie in vielen schönen Ecken Chinas, von verschiedenen Verwaltungsebenen seit den 2000er Jahren ausgehend, setzte man auch hier 2010 einen Vergnügungspark in die Landschaft, häufig ohne genaue Vorstellungen, dafür entsprechend der chinesischen Massenbewältigung auf 500 Personen ausgerichtet mit Unterkunft, Verpflegungs- und Gemeinschaftsräumen. Da der massige braune Block mit A, B, C und D Trakten keinem Nutzungsplan unterlag, freute man sich über Laowangs Anfrage. Zu einem guten Duzend kamen sie an, werkelten und luden bald zu einer Ausstellung ein. Die lokalen Verwalter waren begeistert und schlugen Laowang vor, hier ein Kunstviertel einzurichten. 2016 zog er her und restaurierte und renovierte die letzten drei Jahre. Schulklassen verbringen hier inzwischen ihre Zeichenreisen und Künstler werden zu Residenzen eingeladen.



Als Laowang Alexandra kennenlernte, gedieh der Plan eines internationalen Kunstfestes zur offiziellen Eröffnung des Ortes und auch als Hommage an Pater Wallace. Dieses wird nun mit einer großen Sause am 23.10.2019 gefeiert und ich freue mich sehr, daran teilnehmen zu dürfen.

Stefanie Thiedig, im Juni 2019.
Dieser Text ist auf Reispapier geschrieben zu den Drucken gehängt (siehe erstes Bild dieses Blogbeitrags).







So schön, so gut. Dann allerdings …


Eingesperrt im Kunstviertel Jigongshan

Wir sind doch nicht in Nordkorea. Und dennoch setzt die 70-Jahrfeier der VR China am 1.10.2019 und das wohl damit einhergehende Anziehen der Regierung auf allen Ebenen hier jedermann unter Strom. Natürlich ist die Situation ungewöhnlich: Wir sind in der Provinz, im südlichsten Henan, dreißig Kilometer von der nächsten größeren Stadt entfernt in einem neu eröffneten Kunstviertel, das einmal als Vergnügungsviertel geplant war und weiterhin vermutlich nicht nur der Bezirksebene untersteht. Man wusste hier mit Sicherheit nicht, worauf man sich einlässt als man zwanzig internationale Künstler zu sich einlud. Es ist etwas anderes als chinesische Uniklassen mit 20-Jährigen zu beherbergen, die Gefügigkeit gewohnt sind, um die man einen Zaun ziehen und dort halten kann. Ich wurde heute gefragt, wie ich die Geschehnisse in Hongkong einschätze. Vielleicht bin ich paranoid, auf mein Zögern kam „Wir sind hier unter uns“, die Schere im Kopf war alles andere als beruhigt. Im Prinzip sollen wir hier nicht mehr ohne Begleitung einer der Mitarbeiter vom Gelände.

Ich bin mit An- und Abreise 9 Tage hier. Viel zu lange für solch eine Situation. Ich habe einen Freund mitgebracht, der das erste Mal in China ist. Er ist Hobbyfilmer und ich bat ihn vor der Reise, keine militärischen Einrichtungen aufzunehmen, mit der Kamera keinem Polizisten direkt ins Gesicht zu zielen, solche Sachen. Nicht überall Zugang zu erhalten, klar, kenne ich. Aber damit, dass wir eingesperrt werden, hatte ich nicht gerechnet.

Seit Jahren propagiere ich das Mantra, Land und Leute von der Regierung zu trennen. So herzlich die Leute weiterhin sind, wird es doch gerade sehr schal und ich bin nur noch froh, wenn ich hier wieder weg bin.

Stefanie Thiedig, 21.10.2019.


Die Ausstellung war dennoch ein Erfolg. Und nachdem ich mich mit dem kleinen zweiten Text abreagiert und genügend Reisschnaps eingeflößt bekommen hatte, durfte ich am Eröffnungstag ins Örtchen fahren und für den Abend Feuerwerk holen, ich erstand eine 98-Schuss-Batterie für 150 Kuai.


Perspektivverzerrtes Foto auf dem Heimweg.


Anny Wass (Plakat), Gert Resinger (Skulptur).


Frederik Foert.


Ebd.


Olga Georgieva in Zusammenarbeit mit Cui Guotai 崔国泰.


Gert Resinger (Skulptur), Elke Graalfs (Wandmalerei).


Gert Resinger (Skulptur), Xiao Wenjie 萧文杰 (Malerei).


Silvia Robin Ederer (Installation vorne), Olivier Hölz (Installation hinten).


Anny Wass.


Olga Vorobyova.

Dann ging es in den Abend hinein mit Sause und Tanz ums Lagerfeuer.
















Siehe auch: “毫不犹豫”,来自中国的灵感. In: U Can 优看, 27.10.2019.


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