Dienstag, 25. Februar 2020
2020 KW8: Es lebe die Demokratie

Ausschnitt „meines“ Wahllokals aus der interaktiven Karte mit den Ergebnissen aller 1282 Wahllokale, von Zeit Online, 24.2.2020.

Zunächst ein Beispiel, wie wichtig freie Meinungsäußerung ist: Auf dem Youtube-Kanal Chinas freie Denker erfährt man anhand ausgewählter und mit deutschen Untertiteln versehener Clips mehr über die Situation in Wuhan. Dabei handelt es sich nicht um die von staatlicher Seite aus offiziell freigegebene Sicht, sondern um couragierte Stimmen, die sich ein eigenes Bild machen und dieses teilen – auf YouTube, da eine Verbreitung auf den chinesischen Plattformen zensiert wird, Accounts gelöscht werden. Dennoch bringen sie sich und ihre Familien damit in Gefahr. Sie begeben sich wissentlich in Gefahr, um mit dem Mosaik ihrer Perspektive die dargebotene Realität ein wenig zu erweitern. Der Jurist Chen Qiushi 陈秋实 bringt es in seinem Beitrag vom 30.1.2020 auf den Punkt: Vor sich habe er das Virus, in seinem Nacken die KP. Am 6.2. wurde er verhaftet, seitdem gibt es keine Nachricht von ihm.

Auf WeChat teile ich solche Sachen längst nicht mehr, die eingepflanzte Schere im Kopf ist viel zu mächtig. Umso mehr Respekt habe ich vor Leuten wie Chen und auch der Übersetzerin, die seine und andere Videos einem deutschsprachigen Publikum vermittelt. Umso dankbarer bin ich für und wichtiger ist mir die gefährdete Form der Demokratie in Deutschland. Wie viele andere trage ich kaum etwas zu ihrem Erhalt bei und gehe nur ehrerbietig wählen, wenn sich mir die Möglichkeit bietet. Vergangenen Dezember sah ich die ersten Plakate zur Suche nach Wahlhelfern für die Bürgerschaftswahl in Hamburg am 23.2.2020 und meldete mich an.

Bald darauf wurde ich angerufen und für ein Wahllokal als Leitung eingeteilt. Mir wurden ein Stellvertreter und sechs weitere Teammitglieder zugeteilt und Unterlagen geschickt. Und noch mehr Unterlagen, insgesamt Hunderte von Seiten, für Anfang Februar wurde ein Schulungstermin angesetzt. Nebenbei sah ich mir eine Wahlveranstaltung der SPD mit dem Bürgermeister Tschentscher an. Zum einen überall das gleiche Bild: Unter den anwesenden Zuhörern, Wahlleitern und später bei den Teammitgliedern schien es fieberhaft zu rumoren, eigene Kommentare abzugeben, häufig einfach auch nur irgendwelche belanglosen Anekdoten loszuwerden. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es unkontrolliert aus einem Volk herausblubbert, sobald man ihm die Gelegenheit gewährt.

Zum anderen sah ich mich der Bürokratie ausgesetzt. Bislang hatte ich den Eindruck von mir selbst, dass ich nach kurzen Erklärungen einigermaßen passierlich in Themen einsteigen kann. Zwar höre ich mir gelegentlich zum Einschlafen Podcasts zur Astrophysik o. ä. an, um mich dem schönen Phänomen der geistigen Verwirrung auszusetzen und entsprechend für den Schlaf auszuschalten. Doch dabei handelt es sich um ein Wegdriften. Nun aber überflog ich die Anweisungen, hörte mehr dazu auf der Schulung und dachte, ich gehe es im Learning by Doing an. Am Tag vor der Wahl las ich mir dann doch einmal die Anweisungen genauer durch, quälte mich tatsächlich stundenlang durch haarspalterische Begrifflichkeiten und Formulierungen und entschloss mich, es bei der Auszählung Schritt für Schritt anzugehen. Das Wahlsystem wurde 2009 reformiert und gilt mit seinen zwei mal fünf Stimmen für die Landes- und Wahlkreislisten als relativ kompliziert. Viel Bohei erfordert wohl viel Bürokratie.

Zum Beamtendeutsch gesellte sich Besserwisserei. War ich zu lange in China, wenn ich denke, dass sich die Ersteller einer Struktur etwas dabei gedacht haben müssen und man als Exekutive dem einfach folgen kann? Bin ich mittlerweile zu hierarchisch geprägt, wenn ich es für vorteilhafter halte, auf die Ansagen von einer Person zu hören anstatt auf wildes Durcheinanderratschen mit jeder darf mal? Den Auszähl-Montag nach dem Wahlsonntag begann ich dann mit einem freundlich formulierten Alles hört auf mein Kommando – eine zwar marginale, dennoch offensichtliche Fehlerquote haben wir schließlich einstimmig und erschöpft in Kauf genommen. Sie war leider etwas höher als die Anzahl ungültiger Stimmen.

Als Moral von der Geschichte bleibt die Frage, warum es bloß so schwierig zu sein scheint, aus zwei Extremen einen Mittelweg zu finden? Muss es entweder Demokratie oder Diktatur im politischen System wie im Umgang miteinander sein? Natürlich bin ich weiterhin dafür, dass jeder seine Meinung sagen darf und soll, nur vielleicht nicht jederzeit und ständig ungefragt, vielleicht kann man auch einfach gelegentlich ein bisschen an sich halten oder zunächst reflektieren, was da gleich so aus einem heraus will. Liebe Mitbürger, online herumschreien ist auch nicht der Königsweg, aber wie wäre es mit einem eigenen Blog für jeden …


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