Montag, 3. Februar 2020
2020 KW5: Kulturelle Appropriation


Noch ziemlich am Anfang der Lektüre von Andreas Reckwitz: Ende der Illusionen, Suhrkamp 2019, bin ich auf den Begriff der kulturellen Appropriation gestoßen, der die postkoloniale Kritik „der Machtlosen durch die Mächtigen“ anhängt (S. 40, FN 15, s. Bild).

Ich bin auch der Meinung, dass man nicht alles übernehmen kann, wie es einem gerade gefällt – im Sinne des konfuzianischen Ansatzes, sich überall das Beste herauszunehmen und es für sich anzuwenden. Vielleicht ist es manchmal übertrieben, so wie ich lange nicht in Kirchen gehen wollte, weil ich das Gefühl hatte, dort stören zu können, also als Tourist aufzuschlagen. Eher finde ich, dass man keine schlafenden und also sich im Unwissen darüber befindenden Menschen fotografieren und das dann als kulturelle Praxis auf Facebook posten sollte. Vielleicht geht es aber auch nicht darum. Vielleicht ist das Beispiel der Chinesen eingängiger, die ja doch ganz gerne aus soziologisch-anthropologischen Gesichtspunkten, vielleicht gar mit archäologischem Blick an einem herumpulen. Ich habe es gelegentlich erlebt, dass die Härchen an meinen Armen befühlt und begutachtet wurden oder auch meine Nase sezierend ertastet, dass Kinder dazu aufgefordert wurden, etwas „Anderes“ zu erfühlen. Mir hat das nichts ausgemacht, tatsächlich fand ich das wieder andersherum unter eigenen Aspekten der Sozialstudie ganz aufschlussreich. Allerdings war es mir unangenehm, wenn ich bei Reisen besonders in entlegenere Gebiete wie Qinghai Han-Chinesen erlebte, die Gepflogenheiten tibetischer oder muslimischer Minderheiten genau unter die Lupe nahmen, in Kochtöpfe ebenso interessiert blickten wie in Schubladen, Kleidungs- und Verhaltensgewohnheiten vor allen Anwesenden diskutierten. Unweigerlich muss man dann daran denken, wie Minderheiten in China mit rituellen Tänzen in traditionellen Gewändern quasi als Zirkusvorstellung präsentiert und gleichzeitig die eigene Mundart und ähnliches verboten werden. Das ist ein sehr plakatives Beispiel von staatlicher Indoktrination.

Grundsätzlich bin ich natürlich für Horizonterweiterung, auch für Appropriation Art und das Sampeln von Allerlei, was im Äther flirrt. Ich habe bestimmt nichts dagegen, andere Sichtweisen, bestehende lokale Gewohnheiten für sich zu nutzen oder auch umzunutzen, in den eigenen Gedankenkosmos einzubinden. Man befindet sich sowieso nie in einer leeren Blase, sondern innerhalb aller möglichen Einflüsse – der eigene Output entsteht nur durch den auf einen einfließenden Input. Aber man sollte doch bedacht vorgehen, gelegentlich bedenken, was man eventuell ausreißt, die Grenze des Übertretens im Blick behalten. Vielleicht muss man es so sagen: Es gehört eine Ehrfurcht dazu, die Grenzen müssen erspürt werden, was man sich wie aneignen, wie man schauen darf.


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