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Donnerstag, 22. Februar 2018
Publikation: 111 Orte in Beijing
youjia, 11:00h
Stefanie Thiedig und Xie Kaijin: 111 Orte in Peking, die man gesehen haben muss. Köln: Emons Verlag 2018.
Siehe Emons Verlag und Amazon.
Ein Reiseführer für Beijing – aber einer „für die Bewohner der Stadt“ und für „fortgeschrittene“ Touristen, „die schon öfter vor Ort waren und denen ein gängiger Reiseführer nicht mehr genügt“, mit „unbekannten, skurrilen Orten“, so der Auftrag aus Deutschland.
Da sich Beijing seit 2017 in einer enormen Umstrukturierungsphase befindet, ist es nicht die günstigste Zeit für einen Reiseführer kleiner, ungeläufiger Orte. Wir stecken hier gerade mitten in der Rekonstruktion der Altstadt und im Auf- und Umbau hin zur Megametropole JJJ, Jingjinji, der Zusammenlegung Beijings, Tianjins und Hebeis (nach dem Kfz-Kennzeichen Ji der ehemaligen Präfektur).
Meine Zusammenstellung bleibt also mehr eine Momentaufnahme, weshalb ich versucht habe, viele der Phänomene mit einzubeziehen, die mir während meiner über zehnjährigen Zeit hier untergekommen sind. So geht es etwa nebenbei auch um Smog, Propaganda, um die Nutzung öffentlichen Raums, um den Abriss in den Hutongs, um Hintertüren, Eigentumsverhältnisse, um Rausch und Vertrauen, um Hunde, Katzen und Tauben, um Tischtennis und Fußball, um Religion und Konsum, um Karaoke und immer wieder um Schnaps, gelegentlich auch um Geister. Es geht um Steine und Gartenbauvorstellungen, um Künstlerkommunen und um Xi Jinping und seine Sicherheitsphobie.
Natürlich gibt es von mir viel Kunst und Kultur, es geht viel um städteplanerische Maßnahmen, häufig mit alltäglichen Erfahrungen. Ich beziehe Straßenklatsch und Beijinger Besonderheiten mit ein. Aber es kommen auch bekannte Orte vor, die Verbotene Stadt, die Große Mauer, der Sommerpalast – selbstverständlich nicht in ihrer herkömmlichen Form, die findet man gut ohne mich, sondern stets mit abgelegenen Routen und geheimen Ecken. Dazu streue ich zum besseren Zurechtfinden immer wieder chinesische Begriffe ein.
Man hat in Deutschland weiterhin seine eigenen Vorstellungen von Beijing, von China. Es scheint weiterhin schwierig, China aus europäischer Sicht nachzuvollziehen, wenn man noch nie hier gewesen ist. Von jedem Chinabuchschreibenden hört man ein Lied davon singen. Ein Perspektivabgleich bleibt natürlich viel wert, man möchte schließlich im Drüben der Heimat verstanden werden. Insofern beugt man sich unter gelegentlichen Schauern dem einen oder anderen Bahnhof. Tatsächlich schwergefallen, und deshalb muss ich es hier erwähnen, ist mir das verlegerische Festhalten am veralteten Peking statt Beijing. Marketinggründe ließen jegliche Argumente im Sande versiegen.
In der 111er-Reihe des Verlages hat das Cover immer eine Grundfarbe und ein plastisches Piktogramm in der Mitte. Für Beijing war mein, wie ich nach wie vor finde großartiger Vorschlag: Gold die Farbe und ein Pekinese als Icon. Rot kann ich bei Chinabüchern nun wirklich nicht mehr sehen, und Goldgelb ist die Farbe des Herrschers und damit der Hauptstadt, des Machtzentrums Chinas. Gold auch als Farbe des Geldes, der chinesischen Wirtschaft und des sozialistischen Kapitalismus chinesischer Couleur. Um Rot kam ich herum, Gold ist eine Sonderfarbe, das Buch ist immerhin Gelb geworden. Der Pekinese findet innen seinen Platz, für außen, nun gut, ein roter Lampion.
Mit von der Partie ist Xie Kaijin, mit der ich im Laufe meiner Jahre hier in Beijing und weiterhin regelmäßig durch die Straßenschluchten der Stadt ziehe. In Beijing geboren und aufgewachsen, darüber hinaus durch ihre Zeit in Deutschland mit dortigem Blick versiert, trägt sie mit wunderbaren lokalen Geschichten und Einsichten bei.
Beijing bleibt schwer greifbar, man weiß besonders momentan nie, wie es hier morgen aussehen wird. Insofern hatte ich mir selbst und bereits zu Beginn dieser Arbeit 120 Orte vorgenommen. Neun zusätzliche Orte sind nun auch nicht viele, die unter die Abrisswalze gelangen durften. Aber obwohl diese neun teils nicht mehr als Orte lokalisierbar sind, so existieren sie auf jeden Fall weiterhin als Phänomene, manche gar inzwischen mit anderen Adressen. Deshalb sollen sie in meinem Blog weiterleben. Außerdem können sie als eigene Marketingmaßnahme gesehen werden und machen eventuell gar Lust auf mehr.
Hier sind sie nun, bei Interesse einfach runterscrollen oder per Klick zu ihnen springen:
(111)+9 weitere Orte in Beijing: Übersicht
112. Autokleidung113. Beida und Qinghua
114. Dengshikou Schulgebiet
115. Fangjia hutong
116. Gemüse hinter Gittern
117. Glücksspiel
118. Massage
119. Soundevolution
120. WeChat Secretary
Darüber hinaus haben inzwischen ein paar Veränderungen stattgefunden und den Buchdruck überholt. Soweit es geht, werde ich diese und eventuelle andere anstehende Veränderungen hier im Blog aktuell zu halten versuchen – vielleicht übersehe ich auch etwas, oder vielleicht stößt die eine oder der andere auf Neues, Spannendes, ich freue mich natürlich über Anregungen.
So eröffnen bislang gerade im Buchort Nr. 19: Duan Qiruis Herrenhaus die ersten Nonprofit Spaces, so ist Xia Yanguo nicht mehr im Red Brick Museum, Buchort Nr. 81, sondern will noch vor dem chinesischen Neujahrsfest 2018 im Anwesen von Duan Qirui seine erste Ausstellung zeigen. Und endlich gibt es hier wieder ein Café.
So gibt es im Buchort Nr. 95: Eckturm beim Dongbianmen gleich zwei Veränderungen. Zum einen ist Brian Wallace mit seiner Red Gate Gallery inzwischen aus dem Wachturm aus- und ins 798 gezogen. Auch das dort erwähnte Teehaus auf den Mauern hat leider geschlossen. Dennoch bleibt es ein wundervoller, kaum besuchter, vermutlich weil recht zugiger Ort überhalb der Schnellstraßen am 2. Ring und der Gleistrasse zum Hauptbahnhof mit dem schönen Mauerpark über eineinhalb Kilometer vom Chongwenmen zum Dongbianmen.
So darf man ab diesem Jahr des Hundes (wang bellt er auf Chinesisch, und 旺旺 bedeutet Viel Glück) nur noch außerhalb des 5. Rings zu Neujahr Feuerwerk zündeln, definitiv also nicht mehr, wie angepriesen, im Buchort Nr. 99: Trommelturmplatz, der innerhalb des 2. Rings liegt. Das habe ich nun wirklich nicht kommen sehen – wohl auch deswegen aber blieb es diesen Winter über in der Hauptstadt blau.
Jeder erhält gerne Sternchen, ich auch: Wer mag, von dem würde ich mich sehr über ein paar Zeilen auf Amazon freuen.
Hier die Teaser:
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112. Ort in Beijing: Autokleidung
Der Autobekleidungsshop
Im Herzen Pink bleiben
Das Beijing früherer Zeiten ist nicht mehr. Hier ist alles im eifrigen Elan der letzten Jahre und mit dafür weiterhin vorhandenen Billigarbeitskräften erstaunlich sauber geworden. Noch rumpelt es im Süden, aber sonst ist es fast durchweg gestriegelt, und das längst über die inneren Stadtgrenzen hinaus. Auch das Autofahren zeitigt enorme Zivilisationssprünge. Die permanent plakatierte Aufforderung zur Kultivierung, einhergehend mit den Strafzetteln – beim Ampeln Überfahren, wilden Hupen, nicht Angeschnalltsein –, zeigen Wirkung. Das ist natürlich alles gut und richtig wichtig, und selbst wenn einen manchmal die nostalgische Wehmut überfällt, wollen wir nicht Schmutz und Rüpelhaftigkeit mit Lebendigkeit verwechseln. Aber zum Glück bleiben der Gesellschaft doch noch einige ganz eigene Marotten auf ihren Straßen erhalten.
In Sanlitun, vorm Arbeiterstadion, im 798, beim The Place und ähnlichen Gemengelagen, die ein temperamentvolles Showoff ermöglichen, hat man die besten Chancen, sie anzutreffen oder an einem vorbeidüsen zu sehen. Wer die Augen aufhält, sieht sie außerdem vor Wohnblocks oder im Stau neben sich. Autokleidung wird besonders gerne hochkarätigen Gefährten übergestülpt, kann aber auch sonst jeden für seinen vierrädrigen Liebling überfallen. Und Pink ist nicht nur für Mädels.
Ausdruck von selbstironischer Individualität oder von Protzerei, sieht man sie in allen Metalliclackfarben, in Gold, mit Strass bestückt, im Leopardenlook, mit süßen Teddys drauf oder grimmigen Comicfiguren. Natürlich gibt es im Innenleben ebenfalls einiges zu sehen. Wenn dieses nicht mit verspiegeltem Sichtschutz dem Außen entzogen ist – dem neugierigen Betrachter und der inzwischen weit fortgeschrittenen Brillanz der Gesichtserkennung von Überwachungskameras. Abhängig vom Modell des Autos, zahlt man bei diesem Bekleber zwischen 7 000 und 8 000 RMB.
Adresse Huizhong beili 411, Chaoyang District 朝阳区慧忠北里411号, Tel. 010/6483 0333 | ÖPNV U-Bahn 15, Station Anlilu, nordwestlicher Ausgang A, 600 Meter die Datun lu in den Westen, die Beichen donglu knapp 100 Meter hoch rechter Hand | Öffnungszeiten täglich 9–18 Uhr | Tipp Eine Straßenkreuzung weiter im Westen findet sich der Olympische Park 欧林匹克公园.
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113. Ort in Beijing: Beida und Qinghua
Zum Elitecampus
Der steinige Weg zur Freiheit an den Universitäten
Traditionell hatten Kinder in China über die Dynastien hinweg bis zum sechsten Lebensjahr alle Freiheiten der Welt, erst dann ging es los, vereinfacht gesagt, aber hart im Exzess, mit dem Auswendiglernen der konfuzianischen Lehren. Heute wird bereits der Mutterleib mit Sinfonien beschallt, und schon Kleinkinder sollen Englisch und Ballett lernen, mit Anstieg der eigenen Identitätsfindung auch Qin, Zither, und Kongfu. All diese Vorbereitungen für die Schullaufbahn bedeuten für die kinderarmen Familien, deren Zöglinge weiterhin im Wettbewerb mit Millionen ihrer Generation stehen, muss man sich natürlich leisten können, und einer der Hauptgründe für den Anstieg der Immobilienpreise ist der Einzugsbereich guter Schulen.
Besuchen darf die Schulen nur, wer einen Hukou besitzt, also die Registrierung eines permanenten Wohnsitzes und damit die durchschlagendste Regierungsmaßnahme gegen die Überfüllung der Städte. Das Schulsystem ist unerbittlich, es ist aufgeteilt in sechs Jahre Grundschule, drei Jahre Mittel- und drei Jahre Oberschule. Die Jüngsten haben es noch vergleichsweise beschaulich, mit Beginn der Mittelschule sieht man die Kinder kaum noch, denn dann sitzen sie bis spät in die Nacht über ihren Büchern und bereiten sich auf den Gaokao vor. Das ist die Eignungsprüfung am Ende der Oberschule, die über die Universitätsplatzierung entscheidet.
Hat man dies hinter sich und es gar an die renommiertesten Universitäten des Landes geschafft, die Beida oder Qinghua, ist einem der Abschluss in der Regel so gut wie sicher, und man kann endlich durchatmen. Zwar hat ein jeder auch ideologische Pflichtkurse zu absolvieren und das Studienpensum will bewältigt werden, man muss an MBA-Kursen teilnehmen oder die Eltern schicken einen ins Ausland, aber für viele ist dies die Zeit der größten Freiheit und eigenen Entdeckung. Nun kann man sich etwa auf Romanzen auf dem wunderschönen Campus mit seinen prachtvollen Parkanlagen einlassen.
Adresse Yiheyuan lu 5, Haidian District 海淀区颐和园路5号 北京大学 | ÖPNV Bus 332, 106, 124 und andere, Station Beijing daxue ximenzhan 北京大学西门站, vom Westtor 2 oder 3 der Beida gelangen Sie direkt in die prachtvollen Parkanlagen, durchstreifen Sie diese nordöstlich bis zum Nordtor 2 und gehen von dort über zum Campus der Qinghua | Tipp Gelegentlich lädt das »Stanford Center at Beijing University« im Nordosten der Beida zu Veranstaltungen ein, siehe Stanford Center. In der Qinghua kann man das 3D-Modell des Alten Sommerpalastes betrachten, siehe Beispielfotos des 3D-Modells.
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114. Ort in Beijing: Dengshikou Schulgebiet
Das Dengshikou Schulgebiet
Schul- und Wohnanzeigen
Die Überschrift hier lautet der abgedruckten Anzeige entsprechend »Dengshikou Schulgebiet«. Dengshikou, wörtlich: Schlund zum Laternenbasar, ist nur noch im Namen und in der Erinnerung an die in hiesigem Umkreis über und üppig hängenden und leuchtenden Laternen zum Laternenfest präsent. All die verruchten Assoziationen sind nur noch Legenden. Im Straßenviertel von Donghuamen gelegen, zieht sich die Einwohnergemeinschaft Dengshikou von der Ostseite der Verbotenen Stadt bis nördlich zum Kohlehügel und östlich zur Dongsi nandajie mit gleich vier erstklassigen Grundschulen im Einzugsgebiet.
In der »Shatan houjie«, heißt es weiter, das ist die Gasse im Schatten des Kohlehügels, steht »Privateigentum«, sichan als Abkürzung für sifang chan, zum Verkauf. Privatbesitz ist in China normalerweise auf 70 Jahre beschränkt, als vererbbares Eigentum aber gilt solches, das sich schon vor Gründung der Kommunistischen Partei 1949 und der damit einhergehenden Enteignung im Familienbesitz befand, das vor allem aber noch als dieses anerkannt ist. »Ein Raum im Nordkomplex« hört sich nicht viel an, ist aber mit seiner Südausrichtung der beste des ganzen Hofes, noch besser, dass dieser Nordraum, beifang, ein fangben, eine notarielle Beglaubigung, impliziert. »Einschließlich der Möglichkeit, bei Abriss teilzunehmen und die Stimme zu erheben«, also im Notfall kompensiert zu werden.
»Die Grundfläche von 18 Quadratmetern für 1 480 000 RMB«, das sind etwa 200 000 Euro. Ein Schnäppchen dafür, dass man mit diesem Eigentum für sich und seine Familie das Anrecht auf den Hukou, also den registriert permanenten Wohnsitz und damit auch auf das Schulrecht, erwirbt. »Für weitere qualitativ hochwertigen Käufe« ist eine Handynummer angegeben. Ein kleines Papier zur komplexen Wohnstruktur – oder auf Chinesisch: das Spiel mit der Angst und Wünsch-dir-was-Nummern an den Wänden.
Adresse Shatan houjie, Dengshikou, Dongcheng District 东城区灯市口沙滩后街 | ÖPNV U-Bahn 5 und 6, Station Dongsi, nordwestlicher Ausgang E, die Dongsi xidajie in die Wusi dajie übergehend entlang, die Shatan beijie hoch, die zweite Gasse ist die Shatan houjie | Tipp Die Shatan beijie weiter hoch, kommen Sie an den Zhizhu Tempel 智珠寺, in dem das TRB, Tempel Restaurant Beijing, residiert.
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115. Ort in Beijing: Fangjia hutong
Es war einmal …
… und ist nicht mehr.
Der Fangjia hutong
Was schert uns der Mob?
Es gibt Gassen, die für Touristen geschaffen sind – Paradebeispiele sind die Straße hinter dem Qianmen oder die Nanluo guxiang. Es gibt andere Gassen, die, ebenfalls mit staatlichen Geldern aufbereitet, von hippem Volk überlaufen werden, in denen es dann passablen, aber teuren Kaffee neben poshen Schnickschnack- und Klamottenläden gibt – so etwa der Wudaoying. Und es gibt Gassen, die von selbst gewachsen sind. Seit Jahren denkt man, hier könnte es ebenfalls bald losgehen mit der Hektik, aber der Fangjia hutong scheint seine innere Ruhe zu bewahren.
Sein Zentrum bildet das mit der Nummer 46 bestückte Areal um einen kleinen Kreativkomplex mit Theater, Restaurants und Cafés, ein paar wechselnden Designshops und Forschungseinrichtungen. Einst stand hier eine Werkfabrik, und der Hutong war zu einem Großteil mit Wohnheimen belegt, entsprechend der Industrielook. Auch existiert an Ort und Stelle ein riesiger unterirdischer Bunker, von 300 000 Arbeitern die gesamten 1950er Jahre hindurch gebaut – und von ihnen als »Große Mauer im Untergrund« benannt, ausgestattet mit Büros, Restaurant, Maschinenraum und selbst einem Fahrstuhlschacht. Mittlerweile ist der Bunker meist verbarrikadiert, bei Interesse bitte vor Ort anfragen.
Um die Nummer 46 haben sich viele kleine Läden angesiedelt. Es gehen die Gegensätze von schedderig bis geschniegelt ineinander auf. Gasse und Bewohner scheinen dem großen Geldverdienen gegenüber gleichgültig und treiben einfach, was ihnen gefällt. Der Hutong ist eng, seine Büdchen eins an das andere gedrückt, deren Grundflächen nur gelegentlich zehn, zwanzig Quadratmeter übersteigen. Beliebt sind »Zi’an: Prints and Graphics«, Nummer 30, mit schelmisch bearbeiteten Illustrationen und Papierwaren; »Hot Cat Club«, Nummer 46, zeigt Livemusik mit Open Mic und wirren Frisuren; »El Nido«, Nummer 59, bietet importiertes Bier und einen Hangout für Gassengucker.
Adresse Fangjia hutong 46, Dongcheng District 东城区方家胡同46号 | ÖPNV U-Bahn 5, Station Beixinqiao, nordwestlicher Ausgang A, die Yonghegong dajie etwa 200 Meter hoch und dann westlich in den Fangjia hutong, parallel südlich zur Guozijian | Öffnungszeiten tagsüber bis spät | Tipp Am Eingang zum Hutong finden sich viele kleine Restaurants, liebevoll zubereitet sind etwa die Jianbing, herzhafte Pfannkuchen, in der Yonghegong dajie.
Hier ist inzwischen so gut wie alles verbarrikadiert. Ins 46 kommt man noch hinein, von dort gibt es auch Zugang zum Hintereingang in den Hot Cat Club. Verstörung in Zerstörung finden Sie in Bildern unter: Im Abrisssommer 2017.
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116. Ort in Beijing: Gemüse hinter Gittern
Das Gemüse hinter Gittern
Chinakohl und Lauch für den Winter
Chinakohl und Lauch sind die Wintergemüse Beijings und Nordostchinas. Im Spätherbst werden sie meterhoch auf Fußwegen und vor Supermärkten zum Verkauf gestapelt, und als gäbe es kein Morgen, gehen sie weg wie frisch geschmiert. Sie zur Winterhortung auf Balkone zu sperren und in den Gitterumbau vor Fenster zu schichten, hat neben der naturgemäßen Kühlfunktion auch den Grund, dass hier keine Lagermöglichkeiten auf Dachböden oder in Kellern vorhanden sind – denn die gibt es bei keiner Wohnung, unten hausen die Dixias (das im Untergrund, dixia, wohnende Personal, das die meisten der gesamten Einrichtungen mit Mülltrennung, Technik und Pflege am Laufen hält), oben sind die Häuser flach. In einem Hofhaus hat man mehr Platz, aber auch hier wird vergittert und platzsparend nach außen gebunkert.
Die Vergitterungen sind mit Deng Xiaoping eingezogen. Seit seiner Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre öffnete sich der Markt und schlossen sich die Anwesen. Wo zuvor jeder gleich wenig besaß und Tore und Türen der Hutonghäuser unabgeschlossen blieben, haben viele nun Angst um ihr Hab und Gut. Also Gitter vor Fenster in Erdgeschossen bis in die oberen Stockwerke in mittlerweile allen Wohnungen und Wohnanlagen, Zaun und Stacheldraht drum herum. Man raunt sich Geschichten über böse Einbrüche zu, gar Mord und Totschlag, seid auf der Hut.
Wie überall, funktioniert auch hier das Schreckgespenst der Angst. Man muss sich abschotten, verbarrikadieren, sich einen Abstand verschaffen zur Ungewissheit, Unbestimmtheit der Zukunft, schnellem Wachstum, Willkür der Regierung, Menschenmassen, abhanden gekommenem Vertrauen, weil man seinen Nachbarn nicht mehr kennt. Dabei kennt man sich doch, und Beijing ist sicher wie kaum ein anderer Ort, das Gespenst bleibt ohne ernstzunehmende Realität. So können getrost Wandmitteilungen in den Gassen – für die Anwohner gedacht, für alle sichtbar aufgehängt – darauf hinweisen, dass hier tagsüber niemand zu Hause sei und Langfinger ein Leichtes hätten. Und der Kohlbraten duftet im Wind.
Adresse Gemüsemarkt Beixinqiao santiao 40, Ecke Jiangfang dongxiangkou, Dongcheng District 东城区北新桥三条40号/靠酱房东巷口 | ÖPNV U-Bahn 5, Station Beixinqiao, nordöstlicher Ausgang B, die Yonghegong dajie in den Norden bis in den Beixinqiao santiao, der Gasse etwa bis in die Mitte hinein folgen | Öffnungszeiten täglich 8–22 Uhr | Tipp Diese Gasse ist sommerabends einen perfekten Restaurantbummel wert, allerdings nichts für Vegetarier – und: Mittlerweile zugemauert, finden Sie die kleinen Restaurants nun hinter hohen Fenstern, aber immer noch, wenn noch vorhanden, wunderbar.
Dieser Gemüseladen ist mit vielen seiner Artgenossen inzwischen verbarrikadiert und nur mehr durch einen Hintereingang zugänglich, keiner weiß, wie lange noch. Mittlerweile öffnen und übernehmen hauptsächlich bezirkseigene, staatliche Gemüseläden – und die sind zumindest bislang leider alles andere als empfehlenswert.
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117. Ort in Beijing: Glücksspiel
Glücksspielstätten
Den Deckel lupfend
Glücksspiel und Prostitution sind illegal. Zumindest prinzipiell. Zumindest, denkt das Volk, wenn sich korrupte Kader damit ihre Höllenschlünde stopfen. Aber was an Ausschweifungen von denen da oben durchsickert, wünscht man sich auch unten im Kleinen. Etwa eine weiße Rose im Heim und eine rote Rose heimlich ‒ brav und wild, so ist man selbst oder vielleicht in seinen Träumen.
Diskussionen über die Emanzipation der Frau haben in China nie wirklich stattgefunden. Unter Mao waren auf einmal alle gleich, heute haben alle gleiche Ausbildungschancen, können auch alles machen, was sie wollen, aber es ist weiterhin eine sehr männlich geprägte Gesellschaft, zumindest öffentlich. Frauen agieren aus dem Hintergrund. Der Beijinger gilt gemeinhin als eher faul, ständig ein »Ach, yali da«, der Druck ist groß, auf den Lippen und »frag mal jemand anderen«. Die Beijingerin gilt als hart, hält die Zügel von zu Hause aus stramm in der Hand: Mann muss Geld nach Hause bringen, Frau führt streng das Haushaltsbuch.
Auch hier wird natürlich viel und heiß diskutiert, im Netz schwappen immer wieder öffentliche Diskurse hoch. Doch wenn es thematisch kritisch wird, kommt schnell der Deckel drauf, Hunderttausendschaften sitzen an der Löschung von Onlineinhalten. Dabei muss es gar nicht um Menschenrechte oder Umweltprobleme gehen, eine heikle Gradwanderung, noch ist sie einigermaßen im Griff. Statt Diskursen gibt es hier staatlich verordnete Kampagnen zum herrlich widersprüchlichen »Kampf für die Kultiviertheit«, wenming zhi zhan. Dann geht man gegen »soziale Übel« wie Glücksspiel und Prostitution vor, ratzfatz kommen Meldungen von 30 000 Verhaftungen. Spielt man halt daheim, stundenlang, die Sonnenblumenkernschalen flirren durch die Luft. Hier ist man gleich, das steht gar nicht zur Debatte, weggewischt die Klischees. Und: »Natürlich spielen wir um Geld.« Das Büchlein für den Spielstand liegt griffbereit.
Adresse unter Brücken (unter der Brücke zum MOMA etwa), in Parks wird meist Xiangqi, chinesisches Schach, gespielt, Majiang meist zu Hause oder auch in Spielbuden in Nancheng, der Südstadt | ÖPNV U-Bahn 2 und 13, Station Dongzhimen, dem 2. Ring nördlich in die Kurve folgen | Öffnungszeiten tagsüber draußen, nachts geht es drinnen weiter | Tipp Reisen Sie für legales Glücksspiel nach Macao – man könnte es Ventilpolitik nennen: im Großen verbieten und einen kleinen Ausweg schaffen.
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118. Ort in Beijing: Massage
Massageladen
Dubios oder einfach nur wohltuend
In China bezeichnet kaum jemand irgendjemand Unbekannten als kaopu, also als »verlässlich« – in Verneinung ist bu kaopu, »unzuverlässig«, eine der am häufigsten benutzten Redewendungen. Zu sehr ist man es gewohnt, dass jeder jeden abziehen will – man selbst natürlich ausgenommen. Das dem Yinyang entsprechende Prinzip, dass auf Wohlstand Verfall folgt, scheint den Menschen über Jahrtausende ins Blut übergegangen zu sein und steht im Gegensatz zum westlichen (Aber-)Glauben an stetige Aufwärtsentwicklung. Also lautet die Devise: Raffen, was und wo es nur geht, der Abstieg kommt früh genug. Xis Aufräumansinnen sind somit nicht ganz von der Hand zu weisen. Über die Art und Weise könnte man … aber reden möchte er ja nicht, da käme eventuell eine Debatte bei heraus, und wer sich da alles zu Wort melden würde. Wohl nicht nur zu Unrecht, sonst wären auch in China Flughäfen und Bahnhöfe jahrzehntelange Baustellen.
Kaopu? Versuchen Sie es, fragen Sie eine chinesische Kollegin, Ihren Sitznachbarn im Flugzeug, was von dem Vorschlag zu halten ist, einen Massageladen ohne Zertifizierung aufzusuchen. Vermutlich werden sich Augenbrauen zusammenziehen, Ihr Gesprächspartner rutscht ein Stück von Ihnen ab, dann wieder auf Sie zu, um Ihnen im Vertrauen anzuraten, in ein bekanntes, geprüftes Krankenhaus zu gehen. Etwa in das Dongzhimen Krankenhaus oder das in Wangjing oder Wudaokou, spezialisiert auf TCM, traditionelle chinesische Medizin. Zweifelsfrei gute Einrichtungen, bei denen man sich vorab allerdings auf ein langes bürokratisches Prozedere einlassen muss. Hier kann man hin, wenn man gerade einen Bandscheibenvorfall hinter sich hat.
Die kleinen roten Schummerläden, wo es »auch« Massagen gibt, kann man getrost als zwielichtig bezeichnen. Aber doch nicht die wunderbaren Blindenmasseure oder die wonnigen Wellnessoasen. Unkompliziert und herzlich geht es etwa im Jingtu hutong zu, man freut sich auf Sie.
Adresse Jingtu hutong 3, Dongcheng District 东城区净土胡同3号 京升中医推拿诊所, Tel. 010/6406 4792 | ÖPNV U-Bahn 2, Station Andingmen, nordwestlicher Ausgang A, auf die Innenseite des Rings gehen und westlich bis zur und hinein in die Beiluo guxiang, nach 500 Metern westlich in den Jingtu hutong | Öffnungszeiten tagsüber je nach Kundschaft | Tipp Die Beiluo guxiang und parallel dazu der Baochao hutong lassen sich wunderbar durchstreifen.
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119. Ort in Beijing: Soundevolution
Die Soundevolution
Taxifahrten 4x tuned
In China liegt der Geräuschpegel um ein paar Dezibel höher als selbst in den größten Städten Europas. Das kann man schon auf dem Hinflug feststellen. Der Lärm hat also nicht nur damit zu tun, dass das chinesische Volk so zahlreich ist, es ist auch in einem Flugzeug begrenzter Personenanzahl lauter als andere Nationen. Gar erhalten Reisende von ihren chinesischen Telefonanbietern SMS mit Hinweisen zum kulturspezifischen Verhaltenskodex des Ankunftslandes, meistens gehört die Empfehlung zur Kommunikation in gemäßigter Stimmlage dazu.
Das U-Bahnnetz wird weitläufig ausgebaut, verhält sich aber nicht überall vorteilhaft. Der Himmel über Beijing ist für den Flugverkehr gesperrt. Die Magnetschwebebusse für die Ringstraßen sehen bislang nur im Rendering gut aus, sonst werden sie als großer Murks ausgelacht. Den je nach Zählung 18 bis 25 Millionen Beijingern bleiben also nur die paar Straßen – und diese sind randvoll. Falls Sie nicht auf hochdiplomatischer Mission oder mit wichtigen chinesischen Kadern unterwegs sind, um in den Genuss zu kommen, dass für Sie der Verkehr gestoppt wird, dann vermeiden Sie wenigstens zum Berufsverkehr, in Bus, Bahn oder Auto unterwegs zu sein.
Taxifahren in Beijing ist dennoch großartig, allein schon, weil noch verhältnismäßig günstig. Besonders aber, da man in dem Mikrokosmos der Blechbüchsen die makromale Soundevolution am Leibe spüren kann: Links vom Fahrer ein Smartphone, das durchgehend die Aufenthalts- und gewünschten Ankunftsorte suchender Fahrgäste mitteilt. Rechts ein Smartphone und/ oder der Taxifunk, über das der Fahrer mit seinen Kollegen das Abendessen bespricht. Im Radio läuft meist das in Nordchina beliebte Sprechtheater mit viel Lachen und Meckern. Am hinteren Beifahrersitz dudelt Werbung aus dem Bildschirm. Es kann einen in den Wahnsinn treiben, einem aber auch Welten eröffnen oder der beste Lehrmeister für Gelassenheit sein.
Adresse Daumen raus oder besser per Taxi-App; falls Sie kein Chinesisch sprechen, werden schriftliche Angaben gerne gesehen | ÖPNV auch hier ist der Pegel hoch, aber die fahren eben nicht immer und nicht überall hin | Öffnungszeiten 24/7 | Tipp Der wunderbare Film »Beijing Taxi 北京出租车« von Wang Miao, 2010, nimmt einen mit auf poetische, noch allerdings analoge Touren durch die Stadt. Im Caochangdi gibt es an der Three Shadows Gallery vorbei hinten links einen Taxiübungsplatz noch mit alten Verkehrsampeln.
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120. Ort in Beijing: WeChat Secretary
WeChat Secretary
Mikro die Anmeldung, Makro die Auswirkung
Taxis ohne Fahrgäste ziehen an einem vorbei? Dann sind sie wohl bestellt, das Zauberwort: »Didi dache«; didi ist ein lautmalerischer Tropfenklang, dache bedeutet, ein Taxi rufen. Didi ist mittlerweile gar zu einem Verb aufgestiegen, ich didi mal. Dem Straßenhändler entfährt ein abstruses Grunzen beim Anblick eines Geldscheins? Selbst Kleingeld entlockt nur schiefes Grinsen, geht es nicht über »Alipay«? Im Supermarkt findet sich dieses oder jenes nicht? Nicht, dass die Läden leer sind, aber auf der Suche nach fünf Zentimeter länger oder breiter, nach der einen oder anderen Marke, wird man schnell an »Taobao« verwiesen. Fehlt nur die Frage, was man überhaupt in diesem Laden wolle.
Wer einen Fuß ins Reich der Mitte setzt und länger als nur eine Woche zu bleiben plant – obwohl, selbst dann –, wer also in diesem Land kommunizieren und agieren möchte, der kommt nicht um das als Nachrichtenplattform begonnene »WeChat« herum. Datenschutzbedenken bitte über Bord werfen, hier wird nicht nur mitgelesen, sondern die Daten werden bei Bedarf auch gerichtlich unter Bezugnahme auf Nachrichten und Kontaktkreise gegen einen verwendet. Aber das nur als Obacht am Rande, soll ja keinem der Spaß verdorben werden.
Vergleichsmöglichkeiten sind Uber für Didi, Paypal für Alipay, Ebay für Taobao, gibt es hier auch alles, hat sich aber nicht durchgesetzt. Und WeChat, chinesisch Weixin, Mikronachricht? Die Gegenüberstellung mit WhatsApp hinkt mächtig, zusätzlich ist es Facebook und integriert auch alle anderen Bühnen der chinesischen Onlinewelt. Aber ach, alles auf Chinesisch? Abhilfe bietet die Plattform WeSecretary. Denen kann man mit jeder noch so kleinen Trivialität, aber auch mit großen Problemen kommen. Sie suchen Putzpersonal, Babysitter, Anwälte, Übersetzer, organisieren Konzerttickets, Transporte und helfen bei der Einrichtung von Konten. WeChat müssten Sie sich allerdings selbst herunterladen.
Adresse im Play Store oder App Store: WeChat | Kontakt-ID We-Secretary, siehe auch wesecretary.com, 150 1101 6934 | Onlinezeiten Mo–Fr 9–18 Uhr, Sa 10–17 Uhr | Tipp Die Software WeChat selbst spricht sogar Deutsch, Polnisch, Farsi.
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Dies die Teaser für unsere Publikation
Stefanie Thiedig und Xie Kaijin: 111 Orte in Peking, die man gesehen haben muss. Köln: Emons Verlag 2018, siehe Emons Verlag und Amazon.
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