Dienstag, 11. November 2014
Über Zäune und hulans 护栏


Allüberall vermehren sich in Beijing zur Ordnung der Bevölkerung massiv die Zäune und Gatter auf Bürgersteigen und Straßen. Es grenzt an Wahn. Bauwahn. Ordnungswahn. Lenkung der Massen. Sind wir Zoobesucher oder -insassen? Was in Deutschland Landbefriedung bedeutet, ist in China Personenführung und Massensteuerung. Eine Massenbewältigung, die im Westen nur in Ausnahmefällen notwendig erscheint, steht in China an der Tagesordnung.

Sind Zäune Zwänge, Grenzen, Barrieren? Bieten sie Sicherheit oder Einigelung oder Konfrontation, kann man sie gar überwinden? Wie leben wir in ihnen?


Zäune im Überblick

Eine gute Weile beschäftige ich mich jetzt mit Zäunen und Mauern und habe mich in Beijing, aber auch in Deutschland und in Warschau mit allen möglichen Leuten darüber unterhalten. Spannend, jeder hatte bislang etwas zum Thema beizutragen, Geschichten und Ansichten gingen in alle möglichen Richtungen – Zäune wurden zu Mauern wurden zu Balken im Kopf, aber blieben immer ambivalent: man braucht sie und will sie überwinden.

Ausgangspunkt waren diese Überhand nehmenden hulans 护栏, die Sicherheitszäune. Begonnen habe ich mit der Recherche in westlichen Medien, ich habe viel an Material zusammengesammelt, viel ist es auch hier geworden. Man vergebe mir die Masse, ihre Aufbewahrung hier dient mir als Archiv und möge vielleicht auch die eine oder den anderen interessieren. Es geht, grob strukturiert, ineinandergreifend angelegt, um:

– Zäune in Begrifflichkeit: Wörter und Herkunft
– Zaunarten
– Dualität des Zaunes
– Ordnung
– Zaungedanken des Peterlini
– Ein paar deutsche Redensarten zum Zaun
– 护栏: Hulancing als Massenlenkung
– Massendynamik im Westen
– Barrikadieren in China
– In China sind Zäune der Befriedung traditionell Mauern
– Stadtraum nach Hassenpflug
– Mauerreiter 骑墙
– Ausstellung in Beijing und Düsseldorf: Vom Zaun in Parallelschaltung
– Quellenauswahl

Die angegebenen Referenzen verweisen auf die Quellenauswahl unten. Ich verwende hauptsächlich deutsche Begrifflichkeiten, erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern verstehe dies als Überblick – gespickt mit Phänomenen aus dem chinesischen Alltag, für die man sich an den Fotos orientieren mag.


Zäune in Begrifflichkeit: Wörter und Herkunft

Zunächst einmal sind Zäune (fence, railing) eine Form der Einfriedung, der Eingrenzung eines Geländes. Hindernis, Barriere, Absperrung werden gelegentlich synonym verwendet, der Unterschied aber ist, dass ein Zaun im Gegensatz dazu eine klar definierte Grenzziehung markiert. Gatter und Pferch bezeichnen die Absperrung für Tiergehege. Das deutsche Wort Zaun (verwandt mit engl. town und niederdt. tuin für Garten/ Zaun) bezeichnet ursprünglich nicht das Hindernis selbst, sondern das von ihm umschlossene Gebiet, die Umzäunung. „Der Wortlaut Zaun ist seit dem Althochdeutschen erhalten geblieben. Etymologisch hat das Wort seinen Ursprung im Vorgermanischen und steht für fertigmachen, zubereiten, erhielt dann im Indogermanischen die Bedeutung Stadt, befestigte Stadt, im Germanischen die Bedeutung Einfriedung, umfriedeter Platz und im Althochdeutschen schließlich die Bedeutung Gehege, Verschanzung, Zaun, Umzäunung“ (WAV).

– englisch town mit derselben Sprachwurzel für Zaun als Stadt
– niederländisch tuin für Garten mit Zaun als Garten
– altsäschsisch gard für Zaun
– neuenglisch garden für Garten
– altenglisch geard für Umfriedung
– neuenglisch yard für die Maße des Feldes
– altnordisch Gerdhr für Zaun und Schutz, Hag für Zaun, Hege, Gehege
– im Hebräischen gerät man nicht aus dem Häuschen, sondern aus dem Zaun
– germanisch buan für wohnen, bauen, zugleich: sein, Dasein, schonendes Dasein
– lateinisch lex verwandt mit legare für binden, lesen, Lexis für Wort; Zaun ist Teilung, Verbindung, Gesetz, Wort
– lateinisch templus für Bezirk, stammt aus griechisch für schneiden, ableiten
– lateinisch struere für bauen
– lateinisch angustiae für Enge, heißt Angst
– griechisch phobos für Furcht
– germanisch tuna für Zaun, der eingehegte Platz

Definieren heißt scheiden, unterscheiden, heißt Grenzen ziehen, „um den einen Gedanken (abzugrenzen) von der Unendlichkeit des Ahnens“, „verlangt nach Ordnung, Genauigkeit, Logik, Strenge, Abstraktion“, die Schrift meißelte in Stein, was Gesetz war (Peterlini).

Das Ziehen von Grenzen zur Teilung dessen, was früher eins war, eine Erde, ein Land wurde geteilt, machte zu Teilen, Volk für Volk, Stadt für Stadt, Mensch und Umwelt/ Natur. Aus dem Verständnis einer Eingrenzung wurde die „Notwendigkeit der Abgrenzung, um einen eigenen Bereich definieren zu können, in welchem das eigene Recht herrscht“ (WAV). Zäune dienen der Kenntlichmachung von Besitzverhältnissen an Grund und Boden im öffentlichen Raum oder der Eingrenzung von Mensch und/ oder Tier oder Verwendung zum Verbergen von Blicken Unbefugter.




Hier muss ich an die hohen blauen, undurchlässigen Baustellenzäune bzw. die Sichtschutzmaßnahmen in China denken, die um jede aktive oder auch inaktive Baustelle im ganzen Land zu finden sind. Ein öffentliches Phänomen, das einen Westler gerade wegen seiner vorgeblichen Undurchdringlichkeit argwöhnisch macht, aber doch weniger unüberwindbar ist als es wirkt. Dies ist die Thematik von Innen und Außen, bei der ich mir ständig selbst widerspreche, wenn ich darüber nachdenke. Deshalb möchte ich hierfür zunächst gerne auf den Abschnitt unten über Hassenpflugs Stadtraumkodierung verweisen.


Hinterm Trommelturm durch einen Bauzaun geblickt.

Das Blau findet sich gerne auch in Weiterverwertung, etwa als Gartenlaube:



Hier abseits vom Schuss in der Beigaolu am Airport Express. Hinter der schedderigen Bauzaunreihe findet sich, wie in diesem Gebiet verbreitet, eine Baumschule. Warum es allerdings dieser riesigen, frisch warnend gestrichenen Betonbolzen bedarf, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.






Zäune dienen der genauen Positionierung, sind Sichtbarmachung einer Linie. „Städte wuchsen nicht auf freiem Feld, sondern in einem Rahmen, den die zum Schutz angelegte Stadtmauer vorgab“ (Menzel). Der Zaun schafft ein Gebiet, eine Zone, gibt dem da drinnen einen „abgesonderten, besonderen, erhöhten Wert“ (Peterlini). Ein Zaun ist Gesetz, wird er ungebeten überschritten, bedeutet dies seit jeher Rechtsbruch.

Die Erschließung des amerikanischen Westens durch die Siedler verlief so, dass zuerst das eroberte Territorium umzäunt wurde, worauf man sich dort niederließ. Auch heute ist es Sitte, erst den Zaun aufzustellen, bevor mit dem Hausbau begonnen wird. „Das kann mitunter Jahre dauern, Hauptsache ist, das Revier ist markiert.“ Andere Völker wie die amerikanischen Ureinwohner verwenden Zäune nur zum Schutz, nicht zur Besitzergreifung. Siehe Menzel für diesen Abschnitt.




Es gibt Sitten (oder Unsitten), ganze Privatgrundstücke einzuzäunen, sehr deutsch, aber ursprünglich aus England stammend, angefangen hat es mit der Umzäunung von Weideland oder Gärten, dann kam irgendwann das gesamte Grundstück dazu. Im Beijinger Künstlerviertel Heiqiao wird dem gerade zu Frönen begonnen, was in Deutschland gemeinsam mit dem Gartenzwerg als kleinbürgerliche Spießigkeit bekannt ist – mit Rechthaberei, kleinkariertem Besitzdenken, dem Streit am Gartenzaun unter Nachbarn oder aber als Symbol für Gemütlichkeit und häusliche Idylle. Dieses Heiqiao-Phänomen wirkt auf mich äußerst skurril. Ich muss ein bisschen ausholen. Als das 798 zu kulturindustriell teuer wurde und auch Caochangdi mehr und mehr von renommierten Galerien besetzt, ging man noch ein Stückchen weiter nach draußen. Chinesischer Pragmatismus ist unübertrefflich, flugs waren ganze Ackerflächen von Einzelpersonen aufgekauft (gepachtet im deutschen Sinne, da Landeinnahme in China zeitlich begrenzt ist). Künstler brauchen hier Platz, Künstler bekommen 100 bis 300 Quadratmeterflächen, größtenteils aus Containern und anderem Billigstmaterial zusammengezimmert, weil man ja nie weiß, wann der Abriss droht, man weiterziehen und die ganze Investition neu angelegt werden muss. Viele Künstler produzieren hier nur und wohnen etwa im nahe gelegenen Wangjing, aber genauso viele können sich dies nicht leisten und leben in ihren Studios. Nun besteht das Viertel schon seine sieben, acht Jahre. Ob es der Aufwertung dient, um die Mietpreise alsbald anzuheben, dem Übertünchen, der Heimeligkeit, auf jeden Fall ging es von den Vermietern aus und Mitte diesen Jahres tauchten auf einmal Gartenzäune vor den Studios auf. Vermutlich fing einer an, die anderen zogen nach. Ok, hier werden viele Sitten, die in anderen Ländern als Unsitten verschrien sind, umfunktioniert, kulturelle Ummodellierungen finden statt, mit Übernahme nur einzelner Aspekte in einen ganz anderen Kontext verpflanzt. Künstler einmal niedlich interniert also.

Hier eine kleine Fotoserie als Exkurs. Um Sinn und Zweck geht es wohl nicht, aber die Frage stellt sich doch, wie dies hier nicht nur hingenommen, sondern teils auch aufgenommen wird. Ist doch ganz nett? Schafft auch im Außen ein wenig Privatsphäre? Am ehesten gilt wohl noch das Argument der Rankhilfe für Kletterpflanzen und Grün schmeichelt dem Auge oder muss für Fahrtwege gezähmt werden.





Was man zuvor kannte, waren die eingepferchten, zusätzlich angeketteten, doch nie zum Auslass gelassenen Hunde in ihren Zwingern. Gibt es weiterhin.





Nun, und das erschließt sich mir wirklich nicht, wurden zusätzlich Gestrüpp eingezäunt …



… und Fensterzeilen.



Manchen schien dies so gut zu gefallen, dass sie selbst Hand anlegten. Green Rasenstreifening.




Zaunarten

Ein Zaun ist aus Holz, Metall oder Kunststoff – aus Stein oder Beton ist es eine Mauer, der Unterschied des Zauns zur Mauer ist ihre Möglichkeit des Transports und die begrenzte Durchlässigkeit; aus lebendem Material ist es eine Hecke; Knicks sind die Windschutzhecken auf Wallanlagen in Norddeutschland; ein Zaun in geschlossenen Räumen ist ein Gitter.

Eine kleine Zaunlandschaft gefällig?

Es gibt Maschendrahtzäune (den sogenannten Diagonaldrahtgeflechtzaun), Stacheldrahtzäune, Flechtzäune oder Speltenzäune, Metallzäune (auch Gittermattenzaun), Holzzäune, Lattenzäune oder Staketenzäune, Jägerzäune, Schrankzäune oder Weidezäune, Palisadenzäune, Bohlenzäune, Bretterzäune, Ringzäune, Betonzäune (mit Pfosten als Doppel T-Träger und Platten), elektrische Weidezäune, Elektrozäune, Wildzäune, Ballfänger (Schutzmaßnahmen auf Sportplätzen), Bauzäune, Naturzäune, Industriezäune, Sicherheitszäune, Hochsicherheitszäune, Schmuckzäune, Handelszäune, Grenzzäune (zur Abgrenzung staatlicher Territorien).

Weiter gibt es Zaunpfähle und Zaunpfahlprobleme, Zaunreben, den Zaunkönig, es gibt Zäune, die als Werbeflächen umfunktioniert werden, und solche, die mit Warnhinweisen be- oder sogar überdeckt sind. Es gibt dekorativ umfunktionierte Zäune, etwa als Rankhilfen im Garten. Es gibt von Land zu Land unterschiedliche, die jeweilige Landschaft prägende Zauntypen und -formen, aber in allen Kulturen gibt es Zäune als „Schutz des Inneren und Durchlassen des Lebensnotwendigen“ (Peterlini). Es gibt das Wort Zaunkultur, es gibt ideologische Zäune, es gibt Zäune des nationalen Stolzes. In Deutschland gibt es natürlich Vorschriften zur Bezäunung und Umzäunung, die sogenannten Zaunanordnungen, es darf nicht einfach wild gezäunt werden, es gibt Mindesthöhen und Mindestabstände, auch maximale Öffnungen, es gibt Vorschriften zur Tiefe der Verankerung und der Art des Fundamentes, jede Art von Zaun hat ihre eigene Art von Vorschrift.


Dualität des Zaunes

Schutz, Geborgenheit, Bewahrung, Privatsphäre … oder … Hindernis, Einschränkung, Grenze, Überwindenmüssen.

Es gibt physische Zäune, Mauern, Grenzen, Hindernisse, Barrieren, Schranken, die in ihrer Intention und Nutzung einen funktionalen Pluralismus von sozial, ideologisch bis psychologisch verräumlichen:

Sozial schließt ein Familie, Gemeinschaft, Geborgenheit, Privatsphäre, Intimität, Sorglosigkeit, Sesshaftigkeit, Frieden, Recht, Heimat, mein/ unser/ wir, aber auch Vereinsamung, Verarmung, Erstickung, in sich gekehrt. Es schließt aus, was öffentlich ist, dein/ euer/ ihr, fremd.

Ideologisch umzäunt Sicherheit, Schutz, Bewahrung, Gesetz, Norm, Recht, Zivilisation, Gewinner, die erklärte Welt, Sinnstiftung, umfasst Besitzergreifung, Besitzdenken, Machtanspruch, Machtsymbolik, Erhabenheit, Gemeinschaftsethos. Es grenzt Gefahr aus, Wildnis, Verlierer, Dämonen, die unerklärte Welt, es sperrt sie aus, verbirgt sie, schottet sich gegen sie ab, verbarrikadiert sich. Bleibt die Frage nach der Gefahr, was suggeriert Gefahr? Ist es Einschüchterung zum Stillhalten? Ähnlich der Terrorgefahr?

Psychologisch in wohl mehr als leichter Überschneidung spricht man vom Grundbedürfnis nach Besitz, Eigentum, Alltag, Ordnung, Einteilung der Welt, der Lebensmuster, der Lebensform, der Lebensweise, Definierung, Positionierung, Orientierung, Idylle, Rang. Andererseits ist es auch ein Grundbedürfnis, über die Mauer schauen zu können, sie zu überschreiten, Grenzen zu testen, Neues zu erkunden, Horizonte zu erweitern, Denkmuster und Gesellschaftsmodelle zu überwinden, Perspektiven zu wechseln, zu hinterfragen.

Wo liegt der Bewusstseinsgrad der Existenz von Zäunen? Ihr Zwischenbereich liegt inmitten von Sondern, Absondern, Sinn und Verbinden, Abbinden, Wahn, ist Begrenzung, Abgrenzung, Einschränkung, Ordnung, Funktionalität, Abstand, geregelte Kontrolle, Chaosminimierung, Respekt und gnädiges Wegsehen oder die Einladung zur Partizipation. Wo ist der Graubereich zwischen Errichten und Bedeutungsarmut und auf der anderen Seite Niederreißen und Nichtbeachtung? Müssen Zäune automatisch unmündig machen? Oder mit ihrer Durchlässigkeit Ahnen, Hoffen, Glauben, Verheißung vorgaukeln?

Der Zaun im Traum steht meist für soziale Barrieren oder Klassenschranken, aber auch für das Bedürfnis nach Privatsphäre, Sicherheit, Geborgenheit. Er symbolisiert Grenzen, eine einschränkende Wirkung auf das Leben. Er kann auch für Schwierigkeiten stehen oder für selbst errichtete Hindernisse, mangelndes Selbstbewusstsein und Selbsteinschränkung (Traumdeutung).

Der Zaun symbolisiert das Überschreiten einer Grenze als Eintritt oder Wechsel in einen neuen Abschnitt, Lebensabschnitt. Überwindung ist verbunden mit zunächst einmal starker physischer, aber auch mit mentaler Anstrengung. Auf einen Zaun kann man draufklettern, man kann ihn übersteigen, durch ihn hindurchschlüpfen, vor ihm stehenbleiben, an ihm scheitern, hängenbleiben, sich verletzen, drüber wollen, aber nicht können, von ihm herunterfallen, mit ihm zusammenbrechen, ihn niedertreten, drüberspringen, man kann ihn aber auch selbst errichten. Ein Zaun bietet Schutz, aber verstellt auch den offenen Blick, weshalb man gelegentlich überprüfen sollte, ob er notwendig ist.

Dann beinhaltet ein Zaun immer auch an einem bestimmten Punkt einen Durchgang, ein Tor, ein Ende, durch das man, und nur hier, Einlass gewährt bekommt – oder auch nicht.

Zäune implizieren Trennung von hier und dort, Begrenzungen, Abgrenzung, Einteilung, Unterteilung, Einschränkung. Auf der anderen Seite die scheinbar immer wichtiger werdende Sicherheit, die Markierung einer Außengrenze als Schutzfunktion zur Erhaltung des inneren Friedens- und Rechtsraumes. Der Zaun als Schutzmechanismus. Der Zaun zur Abgrenzung von Nachbarn, zur Verdeutlichung des Eigentums, für die uneinblickbare Privatsphäre (bei hohen Heckenzäunen) gilt er auch als Warnung vor dem Eintreten in den Privatbereich. Das Signal des Zauns: bis hier hin und nicht weiter, hier meins, dort deins. Hier meine Heimeligkeit, Sesshaftigkeit, Versorgtheit, Sorglosigkeit. Es ist die Grenzzone zwischen innen und außen, privat und öffentlich, ich und du, mein und dein, wir und ihr, hier und dort, Anfang und Ende, der Zaun selbst ist beides.

Der Doppelcharakter des Zaun ist genormt und individualisiert. Er bezeichnet ein Grundbedürfnis, Besitzanspruch, steht gar für Alltagskultur. Zaunkultur könne als „subtile Bewusstseinsstudie“ gelesen werden (zu Andries und Rehder). Und sie kann als Selbstbeschränkung verstanden werden. Der äußerer und der innerer Zaun als Grenzen des Innen und Außen, des Anderen, als symbolische Grenzen, auch als kultureller Zaun zwischen Ost und West und was immer sonst an Pluralitäten denkbar scheint.

Was für ein Gefühl vermitteln Zäune – von Sicherheit bis Einschränkung –, geht es ohne, wie kann man sie überwinden, verschwinden lassen? Besonders traditionelle Vorstellungen, Konzepte, Denkmuster, Ansätze – das ist so, das war immer so, das wird immer so bleiben – sollten regelmäßig, mit jeder neuen Generation wieder hinterfragt werden. Es heißt, es liege in der Natur des Menschen, Grenzen zu ziehen und Zäune zu errichten. Gerne wird hierzu Rousseau zitiert, ich schließe mich an: „Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört!’“ (hier aus Menzel).

Andries und Rehder sehen in ihren Zaunwelten die Geschichte des Zauns als Geschichte des Kapitalismus, Zäune seien unmittelbar mit der Entwicklung des Privateigentums und der Individualität verbunden, zu finden überall dort, wo Menschen ihren Besitz gegen andere abgrenzen mussten. Das Eigene wird eingeschnürt in sein Selbstsein, jede Norm, so Peterlini, „ist ein Zaun: Sie kann nicht verhindern, dass wir sie übertreten, aber sie weist uns daraufhin, dass wir übertreten – hinübertreten“. Der versteinerte Zaun, der Stacheldrahtzaun, der Zaun mit Selbstschussanlage will mehr, will zur Einhaltung der Grenze nötigen, „setzt nicht mehr darauf, dass der Mensch für sich bestimmt, was gut und was schlecht ist, sondern zwingt ihn (…,) er tötet, wer ihn überschreitet (…, er) warnt nicht (…), sondern ist der Dieb, der das Land stiehlt, der die Freiheit stiehlt, der das Leben stiehlt“ – zeitversetzt zieht er Strafe nach sich (Peterlini).

„Was scheidet das Gute vom Bösen derart, dass wir das eine vom anderen glauben absperren zu können?“, der Zaun ist die Konstruktion von da ist Gut, da Böse, er ist die Teilung, um uns leichter zurechtzufinden. „Je weniger wir vom Bösen wissen, desto rein böser ist es, desto mehr befestigen wir den Zaun, bewachen ihn, bewehren ihn mit Stacheldraht, bestellen ihn mit Todesschussanlagen. Je mehr wir vom Guten zu wissen glauben, desto undurchdringlicher ziehen wir unsere Zäune um das Gute herum, desto blinder werden wir, desto unempfindlicher für das, was außerhalb unseres vermeintlich Guten ist, für das Böse, das innerhalb unseres vermeintlich Guten steckt. Der Zaun im Kopf ist die Blendung, dass wir auf der richtigen Seite stehen, dass es eigentlich überhaupt nur unsere Seite gibt und ein böses Draußen.“ Deshalb, schreibt Peterlini, bauen wir Mauern.

Die Mauer als Übertreibung des Zauns bricht ein, wenn ihr Sinn übertrieben und durch Übertreibung in ihr Gegenteil verkehrt wird, sie schützt nicht mehr, sondern sperrt aus, bis sie selbst daran zugrunde geht.


Ordnung

Hans Karl Peterlinis Essay möchte ich gerne jedem zum Thema Zaun ans Herz legen. Wunderbare Sätze finden sich hier. Etwa: „Der Zaun strukturiert die Landschaft, strukturiert die Welt.“ Der Zaun dient dem Kategorisieren, der Einteilung der Welt und der Verständlichmachung. Im Zaun „steckt sein Sinn und sein Wahn, der Sinn des Schaffens durch Sondern und Verbinden, der Wahn des Absonderns und Abbindens“, ohne Wahn kein Fortschritt, „Die Geschichte der Menschheit ist ein Errichten und Niederreißen von Zäunen.“ Der Zaun kann als Lebensprinzip im Teilen, Überwinden und Verbinden gesehen werden: „Alles Leben ist ein Trennen, ein Abschiednehmen, ein Verlassen, ein Suchen, ein Versuchen, ein Finden und Verbinden“ (Stavros Mentzos nach Peterlini). „Der Zaun ist das Teilen. Das Teilen, Trennen, Scheiden, Sondern ist ein Schaffen des Lebens. Es bedarf seines Gegenstücks, der anderen Wirkung des Zauns: des Bindens, Verbindens, des Wiederverbindens, was getrennt worden war (…). Der Zaun ist Teil: Das Teil weiß um das Ganze, stützt es, schützt es, ist vom Ganzen getrennt und strebt zum Ganzen zurück. Der Zaun bedarf des Durchlasses, um Leben zu stiften und es am Leben zu halten. Erst wenn das Teil auf das Ganze vergisst, dessen Teil es ist, wenn es die Verbindung trennt zum Ganzen, wenn es die Suche aufgibt danach, wenn es nur noch teilen und nicht mehr Teil sein will, verkehrt sich der Sinn des Zauns vom Schaffen des Lebens zum Zerstören des Lebens.“ Und das „Teilen ohne Verbinden lässt uns vereinsamen, verarmen, ersticken“, wir „sehen den Zaun nicht, wenn wir ihn nicht sehen wollen, aber wenn wir ihn sehen wollen, sehen wir nur noch Zäune.“

Damit kann der Zaun zum Unsicherheitsfaktor werden: „Ist der Raum, den Zäune absondern, groß genug, wird der Zaun nicht als Begrenzung empfunden, lässt es sich leben darin. Je enger der Zaun sich zusammenzieht, desto enger wird es dem Leben darin“. Platon hierzu, immer noch nach Peterlini, hier paraphrasiert: vor dem Zaun müsse die Idee des Zauns vorhanden gewesen sein, vielleicht einfach als urmenschliches Bedürfnis, dass sich im Zaun manifestiert habe. Ordnung muss sein und Kontrolle an Aus- und Eingängen will entsprechend geregelt sein.


Zaungedanken des Peterlini

„Ist der Zaun ein Bedürfnis, dann ein irdisches. Erwächst aus der Erde, löst sich gen Himmel auf. Der letzte Zaun der Welt sind die Ausfransungen der Atmosphäre in das vermeintliche Nichts des Kosmos hinein. Dort endet die Welt und beginnt das Unfassbare, endet unsere Wohnanlage, beginnt die Straße ins Haltlose. Der letzte Zaun der Welt ist die Grenze zwischen dem greifbaren Etwas und dem ungreifbaren Nichts, eine dünner und dünner werdende Hülle aus wechselnden Arten von Luft, eine Membran, hinter deren verletzlicher Haut unser Leben schlägt.“

„Sie hatten den Zaun überschritten aus einem geschützten, aber zu eng, zu dünn gewordenen Leben in ein anderes, fremdes, das nun das ihre, das eigene werden sollte. Im Zaun und im Überschreiten des Zauns ist festgeschrieben der Menschheits-, der Lebensmythos.“ Der erste Zaun bzw. der vorläufig erste Zaun ist nach Peterlini „ein Membran“, er „hatte alle Eigenschaften, die einen Zaun ausmachen: Er musste durchlässig sein, denn Leben in der Zelle war nur möglich, wenn die Ursuppe, durch sie durchfloss (… eine Grenze bildete), denn Leben in der Zelle war nur möglich, wenn die Ursuppe draußen gehalten wurde. Mit diesem ersten Zaun entstand das Ich einer Zelle, die nicht mehr im Wir aufging, sondern ein Eigenes bildete, die nicht mehr ungeteilt, sondern ein abgesondertes, besonderes Teil des Ganzen war. Das durchlässige Teilen ist die Ureigenschaft des Zauns.“ Ist dies der Grundgedanke des aufgeklärten westlichen Individualismus?

„Der Zaun ist der uns sichtbare Teiler des Lebens, der das Leben schafft, indem er es sondert, indem er es bindet. Erst was geschieden ist durch den Zaun und ein Eigenes wurde, kann sich neu binden und ein Wir bilden. Wer den Zaun geschaffen hat, ob er sich selbst geschaffen hat, liegt hinter dem allerletzten Zaun der Menschheit, hinter dem Übergang vom Hier zum Dort, von dem wir nichts wissen. Der allerletzte Zaun der Menschheit sind die Grenzen unserer Sinne, unseres Denkens, unseres Lebens, ist der Tod, aber nicht nur der Tod: ist die Dunkelheit hinter unserer Erkenntnis. Wie jeder Zaun sondert er ab und lässt durch, unser Ahnen, unser Hoffen, unser Glauben. Das Wissen lässt er nicht durch, das Wissen sperrt er aus. Wer weiß, was drüben ist, wenn es ein Drüben gibt, wer kann es wissen, ob es ein Drüben gibt oder dass es keines gibt? Das Leben ist diesseits des Zaunes, ist gestiftet durch die Absonderung vom Jenseits.“


Nun zwischendurch …

Ein paar deutsche Redensarten zum Zaun

– da will ich nicht tot über dem Zaun hängen
– etwas/ einen Streit vom Zaun brechen
– Wink mit dem Zaunpfahl
– nicht mehr alle Latten im Zaun haben
– Zitteraal (wenn man an einen elektrischen Zaun pinkelt)
– die Zäune abreißen
– der Zaungast ist ein Zuschauer, der außerhalb des Zaunes eine meist kostenpflichtige öffentliche Veranstaltung betrachtet, ohne zu zahlen, dies kann auch ein Vogel sein, der sich auf den Gartenzaun setzt; im übertragenen Sinne handelt es sich um den Beobachter von Ereignissen ohne Einfluss oder aktive Teilnahme

Aus dem Chinesischen hat Eva dies hier beigesteuert: 寄人篱下, Abhängigkeit des eigenen Lebens von jemand anderem; wenn man ohne Mittel und ohne Zuhause auf andere angewiesen ist und darum nichts Anständiges zum Wohnen findet, sondern draußen vor dem Zaun übernachten muss.


护栏: Hulancing als Massenlenkung

Die chinesischen Zäune sind all dies eigentlich nicht, sondern das waren und sind immer Mauern gewesen und sind es, vor allem, was die symbolische Form angeht, weiterhin. Es sind Stadtmauern, Regierungsmauern, Verwaltungsmauern, Mauern in Hutongs um Siheyuans, durchhierarchisiert von oben nach unten – solange Konfuzius lebt und immer wiederbelebt wird. Zumindest sind es Sichtschutzzäune, die die Sicht nicht durchlassen, wie die oben beschriebenen Bauzäune.

Die chinesischen Straßenzäune haben eine andere Funktion, sie ordnen und lenken die Gesellschaft, die Masse der Gesellschaft. Es geht um das Freiraumlassen für den linken und das für den rechten Teil der jeweils einen oder anderen Seite, es geht um Chaosminimierung. Andererseits denke ich, es ist ein wichtiger Punkt, der nicht unterschätzt werden kann, dass hier jemand auf den Sicherheits-Angst-Zug aufgesprungen ist und damit richtig ordentlich Geld verdient. Oh, hier brauchen wir unbedingt noch eine weitere Reihe.

In meiner Straße existieren diese Biester teilweise in Viererreihe! Und das bei einer kleinen Verbindungstraße innerhalb des zweiten Rings als Begrenzung zwischen Fahrrad, Auto hoch, Auto runter, Fahrrad. 保护您和我和大家:安全第一!Zu Ihrer, meiner, unser aller Sicherheit: Sicherheit an erster Stelle. Wunderbar von den Amis übernommen.



Diese Zäune existieren in mannigfaltiger Ausführung. Es gibt niedrige und hohe. Im April 2014 kamen güldene Versionen hinzu. Diese verlaufen seitdem die komplette Chang’an jie entlang, in der Mitte vorbei am Maoporträt docken sie an ihren beiden Ende an den westlichen und östlichen 2. Ring. Herr Zaunproduzent wird sich die Hände gerieben haben, dumm ist er nicht. In ihrer Mitte sind die massiven Gestelle mit Kronenemblemen versehen, bei Regierungseinfahrten gibt es sie zum Verschieben, aufgestellt sind sie in drei Reihen, außerhalb der beiden Fahrtrichtungen und in ihrer Mitte. Dazu immer noch mal so zwischendurch, für jeden und für jede Eventualität ist etwas dabei. Seht euch die Herrlichkeit selbst an.















Kleiner Goldrausch.

Dann gibt es da natürlich noch die Lenkungsmaßnahmen vor allem an U-Bahnhöfen, an Bahnhöfen und Flughäfen, aber auch an, vor und teilweise gar in vielen anderen öffentlichen Einrichtungen. In unendlich erscheinenden Schleifen wird man durch Absperrungen geschleust. Nicht wie andernorts mit Flexibändern getrennt, die man bei wenig Ansturm öffnet, sind sie meist aus Stahl und, obwohl auch hier die Möglichkeit des öffnenden Durchlassens bestünde, eigentlich immer und anhaltend geschlossen. Das kann wiederum an der Lustlosigkeit unterbezahlter Arbeitskräfte liegen, vielleicht folgen sie jedoch auch Anweisungen. Ermüdungstaktik? Jemand nannte letztens den Südbahnhof Beijings als bestes Beispiel. In einem Atemzug mit dem neuen Terminal des Flughafens zu den Olympischen Spielen und aus einem Designguss entstanden, handelt es sich um ein riesiges Gebäude, es ist der größte Bahnhof Asiens, hier fahren die Schnellzüge gen Süden ab, es geht über einige Etagen mit enormen Freiflächen. Die Navigation verläuft, kommt man mit dem Auto an, über ein einspuriges Nadelöhr – es existieren zwei Spuren, was auch nicht viel ist, aber eine bleibt gesperrt –, regelmäßiges Warten im Stau ist vorprogrammiert. Anfangs dachte ich, das wäre architektonisch verplant worden, kommt ja nicht selten vor. Aber es geht so weiter. Wenn man aussteigt, sind höchstens zwei der vielen Eingangstüren geöffnet. Auch wenn man mit der U-Bahn ankommt, gibt es nur ein Türchen. Danach muss man sich wieder anstellen und durch ein weiteres Öhr, durch die in China auch an Bahnhöfen wie weltweit nur an Flughäfen üblichen Sicherheitskontrollen. Nach Ansicht des Bekannten, der mich hierauf aufmerksam machte, ist dies gewollt, damit ein möglichst kleckerweises Eintreten vonstatten geht und so möglichst viel unter Kontrolle bleibt. Nadelöhr und Slalomlauf zur Ermüdung, damit nicht andere Dummheiten heranreifen. Oder halt um Schnellschussattacken abzuhalten oder was auch immer in von Terrorpanik durchfluteten Gehirnen vor sich gehen mag. Ja, ich weiß, auch hier gab es Kunming, aber eben, wenn ich so etwas vorhabe, hält mich doch kein Zaun auf oder ich plane ihn ein, um ihn herum. Diese spezielle, Viehfarmen nicht unähnliche Gatterart scheint mir wirklich einer Kontrollparanoia zu entspringen. Die chinesische Regierung muss so viel braune Masse in ihrer Hose haben, die hervorzuquillen droht, wenn nicht Hunderte von Hebeln in Bewegung gesetzt werden.

Hier am Dongzhimen nur in kleiner, aber nicht weniger massiver Ausführung:




Ganz ergeben schleust dieser Mann seine Gepäckstücke eines nach dem anderen durch die Beschränkung.


Massendynamik im Westen

Beim Googeln nach Massensteuerung, Massenlenkung landet man in westlichen Quellen zunächst bei Politik, Propaganda, Geheimdiensten, Überwachungsstaat, Scifi, neuer Weltordnung, Zentralisierung, globaler Bewusstseinskontrolle, Hypnose, Nationalsozialismus. Suche weiter nach Massenpanik, nach Duisburg-Desaster und Loveparade und hier wären wir endlich bei der Psychologie der Massen, bei Egoismen lenken. Ansonsten wird im Westen Massenlenkung etwa bei Shopping Malls oder in U-Bahnhöfen über Werbeflächen und Anzeigetafeln gelöst – impliziter bis konsumorientierter, was das Ganze dezenter macht, aber auch nicht weniger Gehirn waschend.

– Gustave Le Bon (1841-1931), Begründer der „Massenpsychologie“: Psychologie der Massen.
– Sigmund Freud: Die Massenpsychologie und die Ich-Analyse. 1921.
– Thomas Brudermann: Massenpsychologie. Psychologische Ansteckung, Kollektive Dynamiken, Simulationsmodelle. Springer: Wien und New York 2010.

Massenphänomene sind wichtiger in der Soziologie und den Politikwissenschaften, und dort sind es meist auf Mikrophänomene bezogene Untersuchungen. Etwa von Norris R. Johnson: Panic at The Who Concert Stampede: An Empirical Assessment. In: Social Problems. Vol. 34, No. 4, 1987, S. 362–373. An anderer Stelle geht es um Organizational Behavior and Human Decision Processes. Der „wesentliche Grund für mob-ähnliche Phänomene in einem Prozess ‚psychischer Ansteckung’ pathologischen Verhaltens“: das Individuum agiere in einer Masse anders, „weniger vernunftgeleitet und verantwortlich in ihrem Handeln“ (siehe hier). Raffinesse kommt mal wieder von den Schweizern, hier gehts um Personenführung.

Die Schlagworte bei Wikipedia sind: Massenpsychologie, Gruppendynamik, Herdenverhalten, Schwarmverhalten, Kollektive Intelligenz.


Barrikadieren in China

Seit der Öffnungspolitik Deng Xiaopings Ende der 1970er Jahre öffnete sich der Markt und schlossen sich die Anwesen. Wo zuvor jeder gleich wenig besaß und Tore und Türen der Hutonghäuser nicht einmal abgeschlossen wurden, haben viele nun Angst um ihr Hab und Gut …

Angst und Sicherheitsbedürfnis entsprechen die Gitter vor Fenstern in Erdgeschossen bis zum ersten Stock in mittlerweile allen Wohnungen und Wohnanlagen Chinas – Beijings definitiv, man sieht sie aber auch landesweit überall. Man munkelt sich böse Einbrüche vor, gar Totschlag und Mord, seid auf der Hut. Dabei muss angemerkt werden, dass für jeden Ausländer, der einmal eine Weile in Beijing gelebt hat (Einheimische nehme ich nicht mit in diese Rechnung, denn Angst und Schrecken scheinen der meisten ständiger Begleiter), dass besonders die Hauptstadt einer der zumindest gefühlt sichersten Orte der Welt ist. Der Chinese sagt: Alle machen es. Sich Abschotten, Verbarrikadieren, zumindest irgendeine Art von Zaun aufstellen, um sich einen Abstand zu verschaffen aus Unsicherheit, Ungewissheit, schnellen Wachstums, Unbestimmtheit der Zukunft, Willkür der Regierung, Menschenmassen, abhanden gekommenem Vertrauen, weil man seinen Nachbarn nicht mehr kennt. Hört man die in den 1970er Jahren und noch die Anfang der 1980er Geborenen reden, waren die Türen zu den Hutonghäusern nie verschlossen, jeder hatte gleich wenig. Jetzt traut keiner mehr irgendwem über den Weg.

Reich umzäunt und vergittert dieses Wohnhaus. Auf dem Schild wird vor Einbrüchen gewarnt und ordentliches Verschließen von Fenstern und Türen empfohlen:



Hier in den Hutongs wird, mittlerweile verwittert, ich nehme an, von den Anwohnern selbst aufgehängt, ebenfalls auf die Gefahr der Langfingern hingewiesen, die erraten könnten, wann man schliefe, weshalb unbedingt auf Fenster und Türen geachtet werden müsse:



An anderer Stelle, die ich nicht mehr gefunden habe, die vielleicht auch nicht mehr existiert, hieß es auf einer Wandmitteilung von offizieller Seite, dass tagsüber keiner Zuhause sei, weshalb Diebe ein Leichtes hätten. Kann man dies anders als als Hinweise für Diebe verstehen? Wundervoll.

Ein paar Gittereien in den Hutongs:







Die Bewachung von Compounds mit Schranken oder Schiebezäunen sowie mit Sicherheitspersonal soll gleichzeitig abschrecken und Sicherheit suggerieren:



Zaunaufsteller sind entsprechend Einzelpersonen, eine Gemeinschaft (Institution, Verein, Gewerbe, Danwei, Immobilieninvestor) oder ein ausführendes Regierungsorgan.


In China sind Zäune der Befriedung traditionell Mauern

Der „Zaun ist öffentlich, grenzt ab, was sonst allgemein zugänglich wäre, regelt die Verbindung“, liest man bei Peterlini. Zäune der Befriedung im Westen sind jedoch traditionell Mauern in China. Da wo Zäune für das Auge durchlässig und auch Hecken noch weich sind, lassen Mauern keine Verbindung zu. Man kann sie plakatieren und behängen, aber das gilt öffentlich nur ihrem Außen und hat keinerlei Einfluss auf ihr Innen.





Hutonghäuser, Siheyuans, sind abgeriegelte Einheiten. Gelegentlich mit Windscharten oder kleinen Fenstern weit über Kopfhöhe ausgestattet, oben mit Sims gefestigt und mit Dachpfannen geschmückt, hinter der Tür noch einmal mit einer Stele versehen, dulden sie keinen Einblick.





Das hat Tradition und ist tief bis ins Miteinander verankert. Das Netzwerk und der Kreis, mit dem man sich umgibt, sind extrem nach innen ausgerichtet und hierarchisch strukturiert. Ganz nach Meister Kongs Devise von 君臣(仁)、父子(义)、夫妻(礼)、兄弟(智)、朋友(信)– vom Herrscher zum Untertan bzw. Beamten (beruhend auf Menschlichkeit), Vater zum Sohn (Gerechtigkeit), Ehemann zur Ehefrau (Riten), älterer zum jüngerer Bruder (Weisheit) und in Freundschaften (Vertrauen). Das schlägt sich auch heute noch aus auf Staat, Gesellschaft und Familie, auf Nachbarschaften, Danweis, Compounds, Bezirke, Dörfer in Städten, auf Hauptstadt, Sonderwirtschaftszonen, 1st, 2nd, 3rd Tier Städte, und viele weitere Entitäten mit weiteren Aufsplitterungen. Hassenpflug spricht von einem „hohen Verriegelungsgrad“ (S. 45), von China als „Barrieredichte zellularer Landschaft aus gegeneinander abgeschotteten Teilräumen“ (S. 57). Die Frage, wo sich das Subjekt befindet, der einzelne Mensch innerhalb dieses Konglomerates, wird gelegentlich mit individualistisch-westlich beantwortet. Eine Verkleinerung des menschlichen Körpers zum vermeintlichen oder unvermeintlichen Wohle aller.


Stadtraum nach Hassenpflug

Dieter Hassenpflugs Urbaner Code Chinas von 2009 wurde von deutschsprachigen Architekten in China sehr unter Vorbehalt zur Kenntnis genommen. Dennoch finde ich, dass man ihn gut lesen kann. Wie Anna es diesen Sommer sagte: es enthält für jemanden, der China bereits ein Weilchen kennt, nicht viel Neues, aber er bringt vieles sehr gut auf den Punkt. Vermutlich besonders für diejenigen, die sich nur gelegentlich mit Stadtplanung beschäftigen. Außerdem liegt es wohl in der Natur der Sache, dass Behauptungen, die in der Art einer Allgemeingültigkeit aufgestellt werden, immer auch gerne ein Ja, aber hervorrufen – habe ich beim Lesen auch empfunden, empfinde ich genauso beim Lesen meiner eigenen Gedankengebäude.

Hassenpflug wendet sich dem öffentlichen Raum in China zu und spricht vom Dualismus des offenen und geschlossenen Stadtraums (S. 32). Dies führt ein wenig vom Thema fort, aber der Zaun-Mauer-Stoff hat so wunderbar viele Fassetten, dass es doch wieder passt. Was nun hier folgt, sind meine Aufzeichnungen beim Lesen, ich entbinde mich größtenteils des Konjunktivs, liest sich besser und ich behaupte einfach mal aller Wissenschaftlichkeit zum Trotz mit – klar, auch ich unter Vorbehalt. Seitenzahlen finden sich in Klammern.

Schlafanzug und Wäscheleine nennt Hassenpflug die chinesische „Unbefangenheit“ mit dem, was im Westen als öffentlicher Raum bezeichnet wird. Es sei eine „sorglose Überschreitung jener Schwelle, die den privaten, intimen Raum von der offenen Stadtbühne trennt“. „Ohne viel Federlesens werden nahezu alle Wohnfunktionen in den städtischen Straßenraum hineinverlängert – wie auf dem Dorf. Der Gehsteig als Küche, Schlaf- und Wohnzimmer, als Ort selbstverständlicher ‚Intimisierung’“, der „Gehsteig (…) ist erst in Ansätzen ein Bürgersteig. Er ist ein proto-öffentlicher Raum“ (26). Öffentlicher Raum im westlichen Sinne ist in China nur formal öffentlich-rechtlicher Raum, in China wird dieser Raum nur als offener, undefinierter Raum verstanden, „der den Abstand zwischen den bedeutungsvollen Räumen mit Leere füllt“, dieser offene Raum wird durch Familie und Gemeinschaft (nicht Individuum und Gesellschaft) aufgewertet, wo er sonst „grau, leer, inhaltslos und nichtssagend“ bleibt, es handelt sich hier nicht um eine „Ungenauigkeit in der Bestimmung der Grenze zwischen privat und öffentlich“, sondern ist „Ausdruck der kulturellen Hegemonie des Familiären bzw. Gemeinschaftlichen“, die Wäscheleine auf dem Gehsteig ist „private Landnahme, durch welche bedeutungsarmer Raum temporär Bedeutung erhält“ (31), ist „Aneignung (…) zum Ort sozialer Handlungen“ (34).

Offener Raum ist interessant als machtsymbolischer (erhabener) oder wirtschaftlicher (kommerzieller) Raum, ansonsten hat er „keinen Respekt verdient“, weil er ungenutzt sozial irrelevant ist (34). Beide Typen, Macht und Wirtschaft, spiegeln den „Dualismus von zentralistisch verfasster Staatsautorität und liberalem Kapitalismus“ wider, es ist „autoritative bzw. kommerzielle Widmung“ als Sinnstiftung statt bloßer „Funktionalität, Bedeutungsarmut und Nichtbeachtung“ (36). Als machtsymbolischen Platz nennt Hassenpflug das Paradebeispiel Tian’anmen Platz: „groß, maßstabssprengend, erhaben. Er macht den menschlichen Körper klein“, er dient der „Massendemonstration“, „Massenornamentierung“, ist eine „Hypostasierung der Idee der Volksgemeinschaft und insofern ein Element der Verräumlichung einer „hypermoralischen Gesellschaft’“, sehr guter Punkt, wie ich finde (34), er denotiert „Zentralmacht“, ist „die Verräumlichung eines Machtanspruches“ (37). „(U)rbanes Ambiente“ wird durch „Citytainment“ geboten, durch Kommerz als „treibende Kraft der Platzgenerierung“ (35). Bei diesem Standpunkt bin ich mir nicht so sicher, vorstellbar ist es: in China gäbe es „keine Tradition des öffentlichen Raumes, daher auch keine Tradition des zivilgesellschaftlichen, öffentlichen Gesprächs“ (101).

Offen geschlossen

Offene Stadtteilparks, vor allem in älteren Stadtgebieten „sind durchgängig eingezäunt, abschließbar und in der Regel nur über die Entrichtung eines Eintrittsgeldes zu betreten“ (38). Offene Gemeindeplätze sind ein neues Phänomen, tauchen vor allem in Neubaugebieten auf – bzw. würde ich sagen in der Nähe von Neubaugebieten und, wie in Beijing, an den Kanälen mit den Trimmdichgeräten und erklärenden Tafeln usw. – sind „grundsätzlich offen zugänglich, nicht eingehegt und im Prinzip nicht-kommerziell“ (38). Daneben gibt es noch den Nachbarschaftsplatz/ -hof. hier findet „die allmähliche Herausbildung von öffentlichem Raum“ statt, signalisiert so „das Vordringen zivilgesellschaftlicher Elemente, d. h. die Stärkung von Gesellschaft und Individuum gegenüber Gemeinschaft und Familie“ (38). Ein geringes Interesse bestehe am Stadtbild (106), wobei ich sagen würde, dass sich dies schon wandelt.

In Europa geht es bürgerlich, demokratisch, zivilgesellschaftlich zu. In China, ich weiß nicht recht …, seien „Gemeinschaft und Gesellschaft noch unzureichend ausdifferenziert“ und befänden sich in „einem Stadium der Proto-Öffentlichkeit“ (39). Als Beispiel nennt Hassenpflug Gärten: in Europa seien, ein sehr spannendes Beispiel, französische vs. englische Garten dialektisch konzipiert als „Kampf, Streit, Gegensatz“, als Auseinandersetzung, in China geht es dem Yinyang-Prinzip folgend um Harmonisierung, aber immer exklusiv und introvers, Raum hat „nicht allein funktionellen Anforderungen zu genügen, er muss auch den Bedarf an Bedeutung und d. h.: an Bild- und Zeichenhaftigkeit befriedigen“, ist „Symbol und Chiffre einer Verheißung“. Der Westen ist „emotional oder rational, bildhaft oder funktional“, China „emotional, wo (…) rational“, „bildhaft, wo es um Funktionen geht“ (42-46). So funktioniere auch die „Symbiose zwischen streng orientierten Nachbarschaften und orientierungsfreien Geschäftszeilen (…, sie) ergänzen einander vielmehr auf harmonische Weise“ (92). Die Funktionalität entstehe aus „Gründen der Nahversorgung, des Emissionsschutzes und der Begrenzung der Wohnquartiere“ (106f). „Ihre Legitimität beziehen sie ausschließlich aus ihrer kommerziellen Funktion. Sie existieren (als) willkommenes Schmiermittel des Städtewachstums“, „aus dem Hinterland“ kommend, „können (sich die Dörfler, die Wanderarbeiter) das Leben in einer abgeschlossenen Nachbarschaft (hier ist nicht das Phänomen der Dörfer innerhalb der Städte gemeint, stattdessen die Compounds) nicht leisten“, sie erhalten „keinen zivilen Stadt-Status (den Hukou), sondern bleiben im Sprachgebrauch des offiziellen Meldesystems Landbewohner“. „Für die Dauer der chinesischen Gründerzeit werden sie eine Begleiterscheinung der Urbanisierung des Landes bleiben“ (104f).

„(H)oher Versiegelungsgrad“

Introversion, introvertiert, in sich gekehrt, nach innen orientiert, Hassenpflug benutzt das Adverb introvers. Beijings Aufbau folgt dem rechteckigen Grundriss mit Nord-Süd-Ausrichtung und sich im Zentrum kreuzender Zentralachse. Die Stadt ist spirituell positioniert und orientiert, im Osten: kaiserliche Ahnentempel, im Westen: Tempel für die Götter des Ackers und der Feldfrüchte. Historisch bis heute: Symbolik der Allgegenwart kaiserlicher/ staatlicher Gewalt „reflektiert (sie) die hypermoralisch verfasste (papaistische) chinesische Gesellschaft“ (84) – papaistisch ist von Hassenpflug selbst in Klammern gesetzt, großartig auf den Punkt gebracht. Es handelt sich um eine „Kompilation aus Achsialität, Linearität, Hierarchie, Erhabenheit, Vertikalität“ (113). Die Erschließungsstruktur ist rasterförmig, erinnert an den „grid“ in den USA, dort allerdings als „Zurückweisung jeglicher räumlicher Hierarchie Demokratie und Chancengleichheit konnotier(end)“, ist die Botschaft hier eine andere, hier „steht die Ikonographie der Macht im Vordergrund“ (111). „Die extraverse europäische Raumkultur ist der introversen chinesischen diametral entgegengesetzt“ (180). „Der Kaiser blieb Herr aller Räume“ (182).

Die Mauer – da ist sie! – ist in Europa „Symbol der städtischen Freiheit und des altbürgerlichen Stolzes“, verweist in China aber „auf die Herrschaft, ja Anwesenheit des Kaisers als einer allenfalls proto-bürgerlichen Institution“ (190). Da bin ich nun nicht ganz einer Meinung. Schlussendlich hatte zwar der Kaiser das Sagen so wie heute Xi Jinping, aber das „Abstandsgrün“, von dem er dann (ebd.) wie ich finde zu kurz spricht, darf vermutlich nicht unterschätzt werden. Dort tummeln sich nämlich all die anderen Interessen, denen auch entsprochen werden möchte.

Doch kann ich damit übereinstimmen, dass es zur Exklusion, Ausgrenzung, zu einer klaren Trennung von Innen und Außen kommt. Eine Stadt besteht aus Mauern, Zäunen, Toren, besteht „aus gegeneinander abgeschotteten Teilräumen“ (57). Einst wie heute sind Wohnsiedlungen nahezu durchgängig abgeschlossen, „Abriegelung (wird) immer schon mitgedacht“ (57). Bei Dörfer in der Stadt, Einheiten, Danweis, Compounds verweist er auf ihren „insularer Charakter“. Das innere „Erschließungssystem (ist) nicht Teil des städtischen Verkehrssystems“, sondern „sozial exklusiv organisiert“ durch Nachbarschaftskomitees (58). Doch bietet es auch „entriegelte Bereiche“, „allgemein zugängliche, offene Räume“, worin sich die „Interaktion der Wirtschaftssubjekte“ vollzieht. „Exklusiv ist das Wohnen, inklusiv der Handel“, es sind „die beiden bestimmenden Raumelemente der gegenwärtigen chinesischen Stadt, sozusagen ihr binärer Code“ (58f).

Stadt als Mauer und Markt

Einen guten Aspekt bringt er mit Auseinandernehmen des chinesischen Wortes für Stadt ein, chengshi 城市, verbindet Mauer, cheng, und Markt, shi, miteinander – seit der Song-Dynastie (960–1279). Die chinesische Stadt war historisch als kaiserliche Stadt hierarchisch geordnet, ein „zelluläres Gebilde aus Familien- und Nachbarschaftseinheiten mit (…) Zellmembran“, ein „auf konfuzianisch geprägter Familienmoral aufruhende(s, da ist es wieder:) ‚hypermoralische(s)’ System“. Die „Stufen im hierarchischen System von Familie – Nachbarschaft – Quartier – Bezirk“ wurden durch Mauern getrennt und nachts abgeschlossen, „je länger“ die Mauer, „je größer ihre Zahl“, desto bedeutender und höher ihr Rang (59). Dies im Gegensatz zur alten europäischen Stadt, die meist einen „eigenständigen Rechtsbezirk“ hatte (59).

Mit wachsender Größe und Bevölkerungsreichtum wuchsen die Schwierigkeiten, weshalb sich ein „gnädige(s) Wegsehen“ der Regierung herausgebildet hat. So war Beijing: Palaststadt mit innerer Verbotenen Stadt, Kaiserstadt, Hauptstadt, Südstadt, mit „neun Tore der dritten, ebenfalls konzentrisch um die Kaiserstadt gebauten und mit 12 m hohen Mauern gesicherten Hauptstadt“, die vierte, unfertig geblieben, galt als „Schnittstelle nach außen“, war aber genauso „selbstverständlich ummauert und bewacht“. Unter Mao wurden Stadtmauern „als Symbole der als feudalistisch inkriminierten Herrschaft des Kaisers weitgehend abgerissen“, „geblieben sind jedoch die abgeschlossenen Wohnsiedlungen“, zunächst als Danweis, darauf als Nachbarschaften der neuen Mittelklasse, all dies bietet „territoriale Zusammengehörigkeit“. „Es gibt vermutlich weltweit keine Großstadt mit vergleichbarer Barrieredichte wie im Lande der Verbotenen Stadt“. (Siehe für diesen Abschnitt S. 61.)

Wohnquartiere sind vollständig abgeriegelt durch Mauern, eiserne Zäune, Hecken, Videokameras, Infrarotmeldesystem, Wachpersonal, Wach- und Schilderhäuschen, allerdings mit gewisser „Gelassenheit im Umgang mit der Bewachung“ (62). Diese „Durchlässigkeit“ verweist auf die teils „symbolische Natur der Verriegelung“ (63). Historisch gewachsen sei dies „nicht nur akzeptiert, sondern als Lebensform geteilt“, historisch „in China selbstverständlich, darum unhinterfragt und insofern auch alternativlos“ (63). Hier weiß ich wieder nicht so recht, vieles kommt auch mir häufig als unhinterfragt und unreflektiert vor, so schreibe ich es oben von den Künstlern in Heiqiao, das kann einen manchmal in den Wahnsinn treiben, aber eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen. Und man findet doch immer einmal wieder jemanden, der sich eine Erklärung abringt.

Introverse Räume, die Hofhäuser von der Kaiserzeit über die Danweis bei Mao bis zu den heutigen Compounds, denotieren Gemeinschaft, eine von einem „Gemeinschaftsethos bestimmte Lebensweise“ (67). „Sehr oft hat das Abschließen dabei weniger mit physischer Abwehr zu tun als vielmehr mit einem schichtenspezifischen Distinktionsverhalten. Beim Abschließen geht es vorrangig um Symbolik, um zeichenhafte, ikonische Abgrenzung“ (188) – das sehe ich anders, es herrscht viel Unsicherheit, die ich oben als Angst bezeichnet habe, und das Abschließen kann Sicherheit suggerieren.

„Image nach außen“ und „Identität nach innen“

„(G)ating (…) as ‚branding’“ (nach Wu Fulong, 2006; Hassenpflug:76).

Fassaden sind ein wichtiges Bauelement zur Bereicherung öffentlicher Räume in Europa, in China nicht in dieser Art präsent, sondern als Wirtschaftsfaktor mit Ladenzeilen oder Werbetafeln. Hassenpflug spricht von der Blockrandbebauung als „Spangen“, die eine „Mauer- bzw. Zaunfunktion für die dahinter liegende Nachbarschaft“ übernehmen (94). „Ein Wohnquartier, das sich hinter Einkaufszeilen verbirgt, wird nicht so stark als ‚gated’ wahrgenommen“, ist aufgrund des „Funktionalpluralismus (…) urbaner“ (95).

Hassenpflug verwendet als Kode den „soziologische(n) Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft“ (178). Gemeinschaft „verweist auf direkte, unmittelbare menschliche Beziehungen“: auf „Verwandtschaft (‚Blut’), Freundschaft (‚Gefühl’), geteilte Ansichten (‚Interesse’), Ideologien (‚Überzeugungen’)“ (178). Gesellschaft verweist „auf vermittelte menschliche Beziehungen, auf sozial konstitutive Interaktionen von Individuen“, nicht Verwandter, Freund, Feind, sondern ausschließlich „Vertragspartner, Käufer, Verkäufer, Berufsspezialist“, seine Medien sind „Geld, Verträge, ausdifferenzierte Institutionen“, das „gesellschaftliche Individuum“ bezeichnet er als „Wirtschafts- oder Vertragssubjekt“ (178) – wobei er später dazu schon auch noch sagt, dass Verträge erst ihre Gültigkeit durch guanxi und Essen etc. erhalten (183).

Kleiner, längerer Exkurs. Beendet.


Mauerreiter 骑墙


Aus dem 汉语大词典, dem Großen chinesischen Wörterbuch von Luo Zhufeng 罗竹风.

Dann stieß ich auf das Phänomen des Mauerreitens. Qiqiang 骑墙, auf der Mauer reiten, ist im chinesischen Verständnis negativ besetzt, es steht für Unentschlossenheit, Schwarzweiß dagegen mag man, es gilt als klare Meinung, vermutlich weil hier alles so wahnsinnig kompliziert ist.

Es gibt die qiqiangpai 骑墙派, die Gruppe von Mauerreitern – perfekter Anhaltspunkt für mich zur Ergründung von Graubereichen mit einer Gruppe junger Wilder. Denn Kunst ist für mich eben dies: außerhalb der Konventionen das zu ergründen, was sonst noch möglich ist oder sein könnte. Naja, so war es zumindest gedacht. Aber die von mir erwählten Künstler waren nicht begeistert. Neinneinnein, du verstehst die Mauerreiter ganz falsch, das ist tatsächlich und in keiner Weise positiv besetzt in China. Die Argumente spiegeln die Bedeutung des Schwammigen, des sich Windens wider. Siehe auch hier und hier. Es entspreche der Redewendung 墙头草,随风倒, das Gras oben auf der Mauer, das mit dem Wind geht, ein Mauerreiter also als Person, die zu allem Ja sagt, sich nicht festlegt, keine deutliche Position bezieht. Doing. Aber nagut, ich will kein Umdefinieren von Begriffen erzwingen, scheinbar wäre es das gewesen, auch wenn ich nicht wirklich überzeugt bin.


Ein Mauerreiter 骑墙人.

Dieses Bild habe ich im Juli 2014 auf Weixin mit der Anmerkung gepostet, Mir gefällt es, wenn jemand bereit ist, auf die Mauer zu steigen. Auch hier erntete ich nicht sonderlich viel Beifall und konnte gerade einmal 5 Likes einsammeln, zwei aus dem Westen, dann je eines von einem Taxifahrer, einem Elektronikverkäufer und einer Eventlerin. Allerdings von keinem, der irgendetwas mit Kunst zu tun hat.

Mir schwebte so etwas in der Art vor, wie es Peterlini zu Hagazussa, der etymologischen Mutter der Hexe, der Urhexe geschrieben hat. Sie sei „ein geisterhaftes Wesen, das sich auf Zäunen und Hecken aufhält: die Zaunreiterin. Sie bewacht die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, erklärter Welt und unerklärter Welt, Enge und Furcht: Die Enge lässt uns Mauern bauen, die Furcht lässt uns über die Zäune steigen, um sie zu ergründen. Die Zaunreiterin führt uns hinüber, lebt da und lebt dort. Erst als wir vor ihr Angst bekamen, verbrannten wir sie: Wir vertrauten dem Zaun nicht, der uns hinübersehen ließ. Wer hinübersehen wollte, wurde verbrannt: die weisen Frauen, die wilden Frauen, die weisen Forscher, die wilden Forscher.“ Furcht und Enge würde ich andersherum fassen, nämlich dass man aus Furcht Mauern oder Zäune baut und aus dem Gefühl von Einengung das Bedürfnis verspürt, hinübersteigen zu wollen. Ich gehe nicht unbedingt davon aus, dass dies in Urzeiten anders gewesen sein muss, vor allem wenn man dann aus Angst vor den über den Zaun Blickenden, wie Peterlini schreibt, mit den Hexenverbrennungen begann. So oder so sind die Hexen faszinierend. Hexe ist laut Freitag im westgermanischen Sprachgebrauch die Ableitung des Althochdeutschen Wortes hag (Zaun, Hecke, Gehege), es sei der „Geist, der auf Grenzen sitzt“. Früher, wieder nach Freitag, häufig als auf Zaunlatten reitend dargestellt – das war mir neu, in meinem Kopf ritten sie bislang auf Reisigbesen.

Aber ich bin ja flexibel, behalte den Begriff des Mauerreiters im Hinterkopf, um ihn bei passenderer Gelegenheit wieder hervorzuholen – denn wundervoll klingt er für mich weiterhin –, ich gebe mich vorerst drei zu eins geschlagen und wir sind wieder beim Ausgang, beim chinesischen Straßenzaun angelangt.


Ausstellung in Beijing und Düsseldorf
Vom Zaun in Parallelschaltung 护栏——并联


Für diejenigen, die in Beijing leben, mag es an der Zeit sein, ein paar Parkourtricks zu lernen, vielleicht bei den Urban Monkeys Beijing. Wohlmöglich überlegt sich auch schon die eine oder der andere, sein Vehikel mit Lufttechnik zu pimpen, nur herrscht über Beijing leider striktes Flugverbot, vermutlich aus Sicherheitsgründen … Aber das sind nur die äußeren Barrieren. Im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang solle man in China bitte mit spätestens dreißig heiraten, Nachkommen zeugen, gute Arbeit bringt gutes Geld, bringt Haus und Hof, bitte dem Pfad folgen. Wers mag, nichts gegen einzuwenden. Das ist im Westen nicht unbedingt anders, mit meinen Mitte Dreißig werde ich in Deutschland inzwischen genauso eindringlich äußerlich bemitleidet (Zurückgebliebene, alte Jungfer) und innerlich beneidet (in China klingt dabei häufiger das Wort Freiheit mit, in Deutschland Mut, beide entgegen Gesellschaftszwang gemeint). Und wie lange halte ich noch durch, oder, will ich es nicht selbst doch auch, oder, kann man das Ganze nicht mit einem eigenen Modell, beidem gerecht werdend vereinbaren, nur, wer macht da mit und wie sähe dies in der Praxis aus? Hängt man einem nicht praktikablen Idealismus an? Wie schlängelt man sich zwischen außen und innen durch, um sich selbst treu zu bleiben? Wollen wir doch mal sehen, was möglich ist.

Es geht darum, den eigenen Freiraum innerhalb der vorgegebenen und abgegrenzten Pfade zu finden, zu schaffen und zu nutzen. Unsere drei Künstler werden in ihren Wegen, die sie beschreiten, genauso wie wir alle von jeglichen notwenigen bis irrationalen Zäunen geleitet, sie sind durch Zäune verbunden und gleichzeitig getrennt. Innerhalb dieser Zäune aber haben sie ihre persönlichen An- und Ausschalter, mit denen sie schalten und walten, wie sie möchten. In dieser Ausstellung zeigen sie uns ihre ganz eigenen Wege.

Künstler

Zhang Xinjun 张新军, *1983 Zhengzhou/ Henan 河南郑州
Zhai Liang 翟倞, *1983 Houma/ Shanxi 山西侯马
He Jian 何健, *1980 Beijing

Kuration

Stefanie Thiedig

Unterstützung in Beijing

Goethe-Institut (China)

Zeit und Ort

Beijing: 30-Nov-2014–7-Dez-2014
Eröffnung: 30-Nov-2014, 16:00
Künstlergespräch: 7-Dez-2014, 16:00 (und nach Vereinbarung)
Black Sesame Space 黑芝麻空间
Heizhima Hutong 13, Dongcheng District, Beijing
北京市东城区黑芝麻胡同13号

Düsseldorf: 16-Jan-2015–3-Mar-2015
Eröffnung: 16-Jan-2015, 19:00
Galerie Philine Cremer
Ackerstraße 23, Düsseldorf

Wir freuen uns auf euch!

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Quellenauswahl
Stand: November 2014

– Hans Karl Peterlini: Die unendliche Gegenwärtigkeit des Zauns. Essay. In: Der Zaun. Ein Text- und Fotodokument über die Geschichte des Zauns. Hg. von Durst Phototechnik. Innsbruck: Haymon 2005, Essay online hier.

– Sun Longji 孙隆基: Das ummauerte Ich. Die Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität. Leipzig: Kiepenhauer 2003 (1994), Original: 中国文化的“深层结构“,香港:基建设1983.

– Dieter Hassenpflug: Der urbane Code Chinas. Basel und Berlin: Birkhäuser 2009.

– Mathias Menzel, SZ: Zäune, 21.5.2010, online hier.

– Nicole Andries und Majken Rehder: Zaunwelten: Zäune und Zeitzeugen, Geschichte der Alltagskultur der DDR. Michigan: Jonas-Verlag 2005, Rezension online hier.

– Magnus Mills: Die Herren der Zäune. Roman. Frankfurt: Suhrkamp 2000, Rezension online hier, „britische Arbeiterliteratur“, „Eine Parabel auf das ‚sich zum Zwangssystem formierende neoliberalistische Arbeitsleben’“.

– Traumdeutung: Zaun, o. J., online hier.

– Der Freitag: Die Sache mit den Hexen, 2012, online hier.

– Openstreetmap: Diskussion zu Grundstücksgrenzen/ Zäunen, 2012, online hier.

– Wikilinks zum Thema: Zaun, Mauer, Massenpsychologie, Massenlenkung und -steuerung, -dynamik

– Verwandte Themen: Landart, Stadtplanung, öffentlicher Raum, Zoo, Heimat, der/ die/ das Andere, Verhüllung und Verborgenes, Verpackung

Kunstprojekte

– Christo und Jeanne Claude: The running fence, 1972–76, online hier.

– Copa&Sordes, Basel: Cut the Fence, November 2013. Symbolische Dekonstruktion des Gefängniszauns gegenüber des Empfangszentrums Bässlergut in Basel, online hier.

– We Are Visual (WAV, Felix Jung und Marc Einsiedel): Zaun, November 2012. Ausstellung über brachliegende, aber abgesperrte Gebiete im öffentlichen Raum, in der Hamburger Galerie Melike Bilbir, online hier.


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