Donnerstag, 10. Dezember 2015
Erste Reise in den Westen
youjia, 08:22h
Ein Modeladen in Zhangye.
Anm.: Dieser Text entstand in leichter Abwandlung als Teil einer kleinen Festschrift mit dem Titel „Menschenbilder“ zum 60. Geburtstag meines Sinologieprofessors, hier mit Bebilderung analog zum Streckenverlauf.
Die Route: Vom Militärflughafen im Süden Beijings ging es zunächst nach Lanzhou, von dort mit dem neuen Schnellzug nach Zhangye zu den Danxia Regenbogenbergen, dann mit dem Schnellzug nach Xining und weiter mit einem Brötchenbus ans südwestliche Ende des Qinghai-Sees nach Heimahe, dort schnell wieder weg, mit Brötchen und Privatpendlern, weiter in den Westen Qinghais nach Xiangride, dann in den Süden über Dari nach Jiuzhi. Dort hörte ich nach gut zehn Tagen auf der Straße von Zhagana, im Kreis Diebu im Süden Gansus an der Grenze zu Sichuan, wo ich acht Tage blieb, über Aba und Ruoergai in Nordsichuan mit Brötchen und verschiedenen Streckenbussen kommt man hin. Die Runde zurück nach Beijing schließt sich über Wudu in der Stadt Longnan in Gansu, mit Brötchen und Bus weiter nach Baoji in Shaanxi und von dort mit dem Schnellzug über Xi’an und einem Fingerschnippen von sieben Stunden zum Westbahnhof in die Hauptstadt, zurück in meine Beixiaojie.
Ich war großteils sehr einfach unterwegs und vor allem untergebracht, 23 Tage, über 6.000 km, davon dreitausend verkürzte mit Flug und Schnellzug, der Plan war durch Fotografieren und Schreiben, hauptsächlich durch den Weg 空一下自己 zu betreiben, ein wenig herunterzukommen. Ich war alleine, wenn auch in Zhagana erst wirklich auf abgelegenen Bergwegen und in Kiefernwäldern. Dem Kong versuche ich bisweilen nachzujagen, etwa ein Mal im Jahr gerne auf diese Art. Der Weg führt durch sehr viel roten Staub, von dem ich hier berichten möchte.
Immer sonst auf Reisen bin ich erstaunt, wie in Details hinein die Regierung (ist es die Partei?, ich kann die beiden nicht auseinander halten) präsent ist – mit ihren lokalen Ablegern, aber diese exakt in Einklang und im Blick. Ich war das erste Mal so weit im Westen. Besonders in autonomen Gebieten, in Minoritätenherden wie Qinghai und seinen Randgebieten, die nicht der provinzlinearen Einteilung folgen, mit von allen drei Seiten durchdrungenen, von tibetischen, muslimischen und mongolischen Völkern, mit verpflanzten Han-Chinesen zur Aufsicht, mit für China weit hinaus unbesiedelten Landstrichen, besonders hier kommt man mit vorgeprägten Erwartungshaltungen an. Besonders hier bin ich erstaunt über die gleiche Aufbruchseuphorie wie im Osten, vielleicht ist sie auch noch stärker, da der Osten ja prosperiert und sich langsam ausbalanciert, mal zu kippen droht, alles mögliche treibt. Nach spätestens jedem zweiten Minidörfchen gibt es den aktuellen Wertekanon in Gelb auf Rot, alles blitzend neu, unterzeichnet mit Deiner Partei. In regelmäßigen Abständen Großleinwände, das Gelb fast Gold, immer auf Rot, Sterne und Fahnen, gerne ein Feld im Hintergrund, je nach Agrar- oder Industrienutzung des jeweiligen Fleckchens, vorne links zwei freundliche Polizisten oder Militärs, rechts Vatermutterkind mit enthusiastischem Bereitschaftsblick, und gelegentlich seine Präsidentschaft in persona, väterlich weise, aber fordernd, doch Wir kriegen das schon hin, gemeinsam, folget mir herunterschauend, der Vergleich mit Mao mag von solchen Auftritten kommen, aber die Richtung, ha, wo wird die uns hinführen? Aufpoliert ist sie auf jeden Fall, und in jeder Ritze präsent. Tatsächlich imposant ist die Erneuerung der gesamten Infrastruktur, mit Autobahnen, Schnellzügen und Funknetzen, Strom ist vorhanden, Wasser scheint eher Privatsache, aber die weltabgeschiedenen Landstriche oder nur als Durchfahrtsorte genutzten Dörfer, zumindest die Kreise, 县, und Stadtzentren, 镇, werden angeschlossen und sind es bereits großteils.
Touristen und Guojia-Fotografen in Zhangye bei den Regenbogenbergen 张掖丹霞地貌.
Binggou bei Zhangye 张掖冰沟.
Binggou bei Zhangye, ein wahnsinniges Naturschauspiel, ich konnte leider nur einen Ausschnitt ablichten. Der Mittagsblick nach oben eröffnete einen Regenbogenkreis einmal komplett um die Sonne herum.
Der han-chinesische Tourist, in Gruppen, in Privatautos, in Kolonien, in Bussen, immer noch niemals alleine, aber mittlerweile auch studentisch zu zweit oder dritt, ist auf Erkundungsreisen unterwegs, das eigene Land entdecken. Juli und August sind Ferienmonate und der chinesische Tourist wird zum soziologischen und anthropologischen Forscher, nimmt unter die Lupe, was da sonst noch los ist in seinem riesigen Land. Nicht nur Blätter und Landschaften werden prüfend auseinandergenommen, inspiziert und fotografiert, vornehmlich sind auch die urigen Einwohner von Interesse. Alles wird gefragt und kommentiert. Alleinsein findet man meistens, besonders an schönen und dann gleich zu Sehenswürdigkeiten umgestalteten Orten erst nach zwei Kilometern, wenn der Tourist nicht mehr laufen mag, oder nach fünf Kilometern, wenn das Pferd als moderne Back to the Roots-Trage dem Touristen ebenfalls langweilig oder auch ausreichend geworden ist. Durch diese Kilometer aber muss man hindurch, als Ausländer noch durch Hallos und Mach ein Foto mit mir – ich habe eine kleine Nebenfotoserie gestartet, wollte jemand ein Foto von sich mit mir knipsen, habe ich ebenfalls mein Handy hingehalten. Sehr ambivalent, das Ganze. Einerseits nett, dass Interesse bekundet wird, immer und auch nicht nur mit wissenschaftlichem Wohlwollen, man nie allein sein muss, stets jemand da ist, mit dem man anstoßen kann – ganz konträr zu Deutschland, wo ein Blick zu viel sein mag und Vereinsamung nicht unbedingt die beste Alternative darstellt. Aber diese ewig gleichen Fragen können enorm eintönig werden, vor allem, wenn man allein sein möchte. Wobei natürlich dieses Mit sich und der Natur im Einklang-Gesuche auch etwas perfide ist.
Heimahe 黑马河.
Xiangride 香日德.
Auf dem Weg von Xiangride nach Dari 从香日德到达日.
Dari 达日.
Der Guojia-Fotograf, der Fotograf des Landes, so nenne ich ihn seit dieser Reise, der selbstverständlich ebenfalls in Gruppen auftritt und massenweise das Land durchpflügt, um es in seiner schönsten Schönheit abzulichten, ist ausgestattet mit hauptsächlich Canon (Leica ist für Liebhaber), mit fetten Zoomlinsen, tonnenschwerem Stativ, 100-Taschen-Westen, ganz in Kaki, robust, Wind und Wasser abweisend, in besten Wanderschuhen und was noch alles für Zubehör, er ist ernsthaft und berufsmäßig, ziemlich deplatziert übertrieben unterwegs. Nun knipste ich in der mit als Regenbogen beschriebenen, von verschiedenfarbigen Sedimentschichten durchzogenen Berglandschaft vor mich hin, erfreute mich gerade an einem bestimmten Ausschnitt, da raunzte mich jemand von der Seite an. Vernarbt, Mitte fünfzig, in Guojia-Fotografenkluft, schnodderte er mich in unverständlichem Englisch an, wollte das sehen, über was ich eben in mich hineingegrinst hatte. Er nahm mein Gerät und hielt es mit einem Gleichmut, dass ich befürchtete, es müsse jeden Moment den bunten Berg herunterschwinden. Er sah wegen der Blendung sowieso nicht viel, sah mich kurz an, wischte mir meine Kamera zurück und meinte verächtlich It’s just ok. Was für ein Glück, dass ich nicht den Glitzerpreis des chinesischen Fotografenverbandes gewinnen möchte. Immerhin gehen sie einem Betätigungsfeld nach, in dem man, wenn auch nicht unbedingt kreativ aktiv sein, so doch Blickwinkel austesten kann. Um dann schön die Sättigung in der Postproduktion hochzuziehen.
Es ist anstrengend, in China zu reisen. Ja, aber auch ungemein belohnend, mit ein wenig Zeit und, ich weiß nicht, ist es Abgeklärtheit oder entspannte Hinnahme?, vielleicht ein sich Einlassen und, wieder, immer weiter Hongloumeng-ähnlich, ein durch den Sud die Essenzen Zulassen?
Von Dari nach Jiuzhi 从达日到久治.
Jiuzhi 久治.
Zhagana 扎尕那.
Ich möchte von der hübschen tibetischen Frau schreiben, mit rissigen Händen, dass einen schon der Anblick schmerzte, Anfang zwanzig, aus einem anderen Dorfe vorgestellt, über die Gipfel dort, mit dem Pferd in vier Stunden erreichbar. Während ihr Schwiegervater mir vom Opiumrauchen erzählte, kocht, putzt, wäscht sie immerfort. Wir saßen in der Stube, ihr unglaublich attraktiver, warmherziger Mann bereitete Tee, die ganze Familie ein wahrer Augenschmaus, drei Jungs flitzten herum. Hier stellt die Ehefrau zuerst dem Gast, dann dem Schwiegervater, dann dem Ehemann das Essen auf den Tisch, nach Erhalt fängt jeder für sich an zu schmausen, während sie zwischen weiterem Kochen kleine Portionen ohne Fleisch und Gemüse, nur die reinen Nudeln mit ein bisschen Salz und Öl zu sich nimmt. Später meinte sie, dass sie gerne mit mir auf WeChat befreundet wäre, aber dass ihr Mann ihr diese Software zum Kontakterhalt mit ihrer Familie und ihren Freunden nicht erlaubte. Mich hatte er gleich am ersten Abend zu seinem Netzwerk hinzugefügt.
Zhagana 扎尕那 mit viel, viel dunklem Grün, weiten Flächen, nur etwa 2.500 Höhenmetern und wunderbar verlassenen Bergwegen.
Zhagana besteht aus vier, hier drei sichtbaren Dörfern, die sich durch das Tal ziehen.
Weiter möchte ich von dem muslimischen Mann in Xiangride erzählen, vor dem ich so häufig gewarnt wurde – Achtung, gefährlich! – und der sagte, Harmonie, Frieden, das will ich doch auch nur, ich will doch auch nur mein Leben in Ruhe leben dürfen. Von dem Han-Chinesen, ebenfalls aus Xiangride, der mich nach Dari brachte und dabei in einem wilden Durcheinander von seinen Vorstellungen über Buddhismus und Zweisamkeit schwadronierte. Von dem tibetischen Geschwisterpaar, das mich einen Tag länger in Jiuzhi verweilen ließ, mit mir im Auto bei Nacht und weiter am nächsten Tag herumfuhr und die witzigsten Geschichten der Lokalpolizisten fabulierte. Von den Militärs, die mich in Baoji auf einem Berg aufgriffen und zu Polizei und Erklärung mit Fingerabdruck auf dreiseitigem Protokoll schleppten, nicht ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassend, was und überhaupt – die mich schön in die Realität zurückholten.
Die Wirklichkeit. Objektivität, auch viel Passivität, manchmal schlummernd bis zum rechten Zeitpunkt, oder auch nicht. Wirklichkeit als Möglichkeit. Meinetwegen im Sinne von Subjektivität, aber mehr noch als mögliche Machbarkeit. Parallelitäten im Ganzen, verwoben, mal übereinander hinwegrüpelnd, dann stolpernd, um sich schlagend, dies auch teils forcierend, aber im Allgemeinen doch eigene Freiräume sich suchend, dort einnistend, vielleicht gedeihend. Ich bin längst noch nicht fertig mit ihr, mit der Wirklichkeit der Illusion. Mit dem Westen Chinas habe ich gerade erst begonnen.
August 2015.
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