Dienstag, 4. Oktober 2011
Artikel zur Ausstellung von Yves Netzhammer in Shanghai
Gerne würde ich irgendwann einmal meine Publikationen auf der einen Seite mit den finalen Versionen und diesen gegenüberstehend auf der anderen Seite mit den Vorabversionen inkl. Kommentarstrukturen veröffentlichen. Die Fragen, die im Prozess einer Publikation auftreten, scheinen mir äußerst spannend für das dt.-cn. Verständnis, Unverständnis und Missverständnis. Das aber nur am Rande, hier Referenz und Text, s. auch den Post vom 2.5.2011:


Stefanie Thiedig: Der Versuch, eine Universalsprache zu finden. In: Passagen, Nr. 56 (September 2011), Ortszeit: Shanghai. Zürich: Pro Helvetia. Auf Deutsch, English und Français bei Pro Helvetia.


Der Versuch, eine Universalsprache zu finden

Die Ausstellungsreihe Action and Video – CH/CN Art Now in Shanghai zeigt Videokunst aus der Schweiz und China und bietet den Kunstschaffenden beider Länder eine Plattform für den Dialog.

Von Stefanie Thiedig, Shanghai – Performance und Video, Form und Medium – das sind grosse Begriffe, um die es in der von April bis Dezember 2011 dauernden Ausstellungsreihe Action and Video – CH/CN Art Now in Shanghai geht. Auf der einen Seite stehen das Minsheng Art Museum und die dort ausstellenden chinesischen Künstler, auf der anderen Seite die von Pro Helvetia Shanghai eingeladenen Schweizer Kunstschaffenden, und dazwischen Li Zhenhua, der in Zürich und Beijing lebende Kurator und das Bindeglied der ganzen Show. Dazwischen steht aber auch die interkulturelle Verständigungsarbeit, die auf beiden Seiten viel Geduld erfordert und die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen.


Kunststudenten aus Shanghai stellen die Werke unter Anleitung der Künstler fertig (Foto von Jin Jingyi 金静仪).

Kontraste und Parallelen

Retrospektiven chinesischer Gegenwartskunst haben seit Sommer 2010 in China Hochkonjunktur. Diesen September zeigte das Minsheng Art Museum einen grossen Überblick chinesischer Videokunst. Dem aktuellen Thema haben sich das neue Pro-Helvetia-Büro in Shanghai und der Kurator Li Zhenhua angeschlossen. Das Projekt Action and Video – CH/CN Art Now will mit der Gegenüberstellung zeitgenössischer Videokunst aus der Schweiz und China Kontraste und Parallelen aufzeigen und den Kunstschaffenden beider Länder eine Plattform für den Dialog bieten. Dabei treffen die Schweizer Künstler Yves Netzhammer, Bernd Schurer, Roman Signer, Yan Duyvendak und Marc Lee sowie der Kunsthistoriker Beat Wyss auf die chinesischen Künstler Liu Wei, Lu Jie, Aaajiao, Zhang Peili und Lu Chunsheng. Eröffnet wurde die Ausstellungsreihe am 19. April unter Anwesenheit des Schweizer Bundesrats Didier Burkhalter. Die erste Schau galt Yves Netzhammer in Begleitung des Computerkünstlers und Visual Artist Bernd Schurer – der ursprüngliche Titel Die Anordnungsweise zweier Gegenteile bei der Erzeugung ihres Berührungsmaximums wurde auf Englisch kurzerhand mit Nature Fear Entity übersetzt.

Schmetterlingseffekt

Die Ausstellungsreihe soll nicht als klassisches Anschauungsobjekt, sondern als Kommunikationsmittel dienen, mit dem der künstlerische Schaffensprozess im Entstehen greifbar wird. Deshalb haben die Projektverantwortlichen auch das Minsheng Art Museum und zahlreiche Shanghaier Kunststudenten mit eingebunden. Nachdem die ersten Wandzeichnungen gemalt, Rauminstallationen angebracht, Videos integriert und Klänge synchronisiert sind, und damit das Grundgerüst steht, wird die Ausstellung unter Anleitung der Künstler zusammen mit den Studenten fertiggestellt. Noch immer geht es in chinesischen Kunstschulen primär um Methoden und Produktionsvorgänge – das chinesische Bildungssystem lässt nicht viel anderes zu –, doch gerade auch über formale Aspekte können die Standpunkte der Künstler in der Gegenwartskunst erkannt werden. Li Zhenhua äussert mit Blick auf den an chinesischen Schulen vorherrschendem Drill: «Mit unserem Ansatz kann natürlich nicht das chinesische System verändert werden, aber wer weiss, vielleicht entsteht ein Schmetterlingseffekt.» Begleitende Workshops, Vorträge, Besuche von Schulen und Institutionen sollen dazu beitragen.

Lernen müssen auch die beiden Kulturen miteinander: «Obwohl ich schon eine ganze Weile mit Schweizer Künstlern zusammenarbeite, befinde ich mich in einem gewaltigen Lernprozess, was die unterschiedliche Arbeitsweise chinesischer und Schweizer Künstler angeht», so Li Zhenhua. Das chinesische mantrahaft verwendete «Manman lai» («immer mit der Ruhe») zielt ins Herz kultureller Missverständnisse, und Europäer können es oft nur schwer nachvollziehen. Dies auch deshalb, weil in China dann gleichzeitig vieles sehr schnell geplant und umgesetzt wird – man verständigte sich deshalb für die Ausstellungsreihe darauf, Work in Progress zu leisten.


In Szene gesetzte Sinneserfahrung: Yves Netzhammer bei der Arbeit (Foto von Jin Jingyi 金静仪).

Neues Pro-Helvetia-Büro in Shanghai

Da Netzhammers Werke nicht einfach und auf den ersten Blick verständlich sind, sind die Studenten mit Kommentaren sehr vorsichtig und nähern sich häufig über die Tierfiguren seinen Themen an. «Als Elemente ohne Kodierung und Bewertung sind Tiere ideale Emotionsträger und bieten Raum für Assoziationen», so Netzhammer. Die Beschäftigung mit Individuum, Kultur und Natur wirft bei Netzhammer existenzielle Fragen auf: Der Oberfläche ist nicht mehr zu trauen – sie öffnet den Blick für den psychologischen Raum darunter: auf unsere Ängste vor dem Ausbruch aus Konventionen, auf die Labilität unserer Weltsicht. Nicht alles ist für jeden lesbar, doch die in den Szenen dargestellten Sinneserfahrungen sind von einer starken und umfassenden Ausdruckskraft, die den Beteiligten beider Kulturen die Möglichkeit gibt, sich in einer Art Universalsprache zu finden.

Darauf hofft auch das neue, im Oktober 2010 offiziell eröffnete Liaison Office von Pro Helvetia in Shanghai. Seit 2008 wurden mit gegen siebzig künstlerischen Projekten Erfahrungen für einen Kulturaustausch zwischen China und der Schweiz gesammelt. Das Büro beschäftigt drei lokale Mitarbeiterinnen: Die Leiterin Sylvia Xu wird unterstützt von Cathy Fu in Shanghai und Eliza Wang in Beijing, die Pro Helvetia Shanghai mit der Hauptstadt verbindet. «Wir sind ein kleines und damit äusserst flexibles Büro, und die Strukturen sind nicht so hierarchisch wie in vielen anderen Ländervertretungen», so Xu. Der inhaltliche Schwerpunkt wird jedes Jahr neu gesetzt: Dieses Jahr ist es die Videokunst, im folgenden Jahr wird es Design und Architektur sein. Künstler werden allerdings selten direkt gefördert, stattdessen arbeitet Xu hauptsächlich mit chinesischen Institutionen zusammen, die einzelne Projekte finanziell und mit ihren Netzwerken unterstützen. Das Minsheng Art Museum, Partner des aktuellen Projekts, leistet diesbezüglich Pionierarbeit, denn es ist in China das erste und bislang einzige gänzlich von einer Bank finanzierte Museum für chinesische Gegenwartskunst. «Mittlerweile planen auch andere Banken die Gründung von Museen», so der Direktor Zhou Tiehai. «Das ist Neuland für uns in China – momentan beschäftigen wir uns noch mit fundamentalen Prozessen der Museumsarbeit und dem Aufbau von Sammlungen.»

Informationen über die aktuellen Ausstellungen und Anlässe zu Action and Video finden sich unter Pro Helvetia China.

Stefanie Thiedig (*1980) arbeitet als freiberufliche Kulturvermittlerin unter dem Namen Kulturgut in Beijing. Im September 2010 hat sie zusammen mit Katharina Schneider-Roos das Kompendium Chinas Kulturszene ab 2000 über die chinesische Kunstszene der Nullerjahre im Christoph Merian Verlag herausgegeben.

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